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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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der Stelle alles liegen- und stehenlassen, um mit der gewonnenen Erfahrung noch einmal Like a Hurricane durch ihre Zahnlücke zu schlüpfen. Ihr Abschiedsbrief, den er auswendig lernte, muß im Karton über der Bürotür liegen, Vorwürfe, die er nicht begriff, weil an seiner übergroßen Liebe doch kein Zweifel bestehen konnte. Auch die Tagebücher besitzt er noch, aber nostalgisch ist er schon genug. Vielleicht nur wegen ihr, wegen ein paar Tagen nie wieder eingeholter Seligkeit ist die Kneipe hinter der Stahlverarbeitung bis heute der einzige Anfang in Siegen, dem ein Zauber innewohnte, wo die Langhaarigen auf den antiquierten Sofas lagen und die Beine auf dem Tisch Haschisch rauchten zu psychedelischer Musik. Als der Orthopäde endlich in die Straße einbiegt, in der die Stahlverarbeitung lag, strömt eine Ramadangesellschaft auf den Bürgersteig, bärtige Männer in Anzügen und ein Pulk von Frauen mit langen Mänteln und eng anliegenden, um den Hals statt um das Kinn gebundenen Kopftüchern, die es unter den Gastarbeitern früher genausowenig gab wie unter den Autobahnen Cineplex und Cappuccino. Der Jüngste fürchtet schon, die Kneipeselbst sei jetzt eine Moschee, und hält das Nichts hinterm Bahnhof plötzlich für die sanftere Art, die Vergangenheit zu tilgen, als sich der Pulk endlich auflöst und der Orthopäde vor den hellen Nachkriegsbau mit dem einstöckigen Anbau fährt, in dem immer noch eine Kneipe gleichen Namens geöffnet zu haben scheint. Vor dem Eingang ringen zwei ältere Männer miteinander, offenbar betrunken und mehr aus Spaß. Der Jüngste zögert eine Sekunde, tatsächlich auszusteigen, fürchtet in Erinnerung an die einst selbsterbeuteten Mercedes-Sterne auch für die nagelneue Limousine des Orthopäden. Die Leuchtreklame wirkt neu, der Name in dem alten Schriftzug aus Fraktur, darunter jetzt »Musik-Kneipe«, was sich früher von selbst verstand. Was aus den Inhabern geworden sein mag, zwei kleingewachsenen griechischen Zwillingen mit hüftlangen schwarzen Locken und Zappa-Bart? Sie wohnten mit der winzigen Mutter, die ab und zu aus der Küche heraustrat, wenn sie einen Teller des damals noch exotischen Gyros mit Pommes frites und Krautsalat brachte, im Stockwerk über der Kneipe, schon weil kein Nachbar den Lärm toleriert hätte. Mindestens einer der beiden Zwillinge wachte immer hinter der quadratischen Theke, ohne daß der Jüngste je hätte sagen können, welcher von beiden es war. Etwas Unnahbares strahlten sie aus. Vielleicht konnten sie einfach nur nicht gut genug Deutsch. Ins Gespräch kamen die Gäste nur mit den jungen Frauen, meistens blond, die an den Tischen bedienten. Packen wir’s, murmelt der Jüngste so laut, daß der Orthopäde es hört, packen wir auch diese Wurzel, um sie auszureißen.
    Es gibt Science-fiction, in der alles beim alten ist, der Ort mitsamt Inventar, die Tätigkeiten und Verhältnisse, die Geräusche und Gerüche, nur sind alle Menschen von der einen auf die andere Szene dreißig, vierzig Jahre gealtert, Regieeinfall oder Neutronenbombe. Hinter der Theke wacht der Grieche oder sein Zwillingsbruder mit silbernen Locken, die bis an die Hüfte reichen, und gleichfarbig gebliebenen Zappabart. An den vier Theken der quadratischen Bar, die mitten im Eingangsraum steht, lehnen die Gäste genauso dichtgedrängt wie früher, aber sind nicht mehr Anfang Zwanzig, vielmehr in Rente demnächst. Die Musik ist exakt die alte, laut und psychedelisch. Auch die Sofas im großen und der Billardtisch im kleinen Nebenraum stehen noch an ihrem Platz, ebenso die blonde Bedienung, die als einzige jung geblieben ist. Über einige Sekunden hinweg meint der Jüngste zu träumen. Dann setzt er sich mit dem Orthopäden an einen der vier Tresen und blickt links, rechts und gegenüber in Spiegelbilder, die sich nicht zum Vorteil verändert haben. Sechzigjährige mit Halbglatze und Bierbauch werden nicht flotter durch den Ohrring, den sie sich bewahrt. Hinzu kommt die Schnurbartfrequenz in Städten wie Siegen, die dem irakischen Kabinett unter Saddam Hussein entspricht, um wenn schon aus Siegen auch den zweiten Kalauer mitzunehmen. Bärte hingegen, inzwischen gleichermaßen verbreitet hinter und in der Stahlverarbeitung wie im irakischen Kabinett nach seiner amerikanischen Befreiung, signalisieren Gemütlichkeit, zumal wenn

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