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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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der Bierbauch, der obligatorisch geworden zu sein scheint, den Umfang eines Fasses erreicht. Nein, die Kneipe ist alles, aber nicht mehr wild, sonst hätte sie auch kaum drei Golfkriege überstanden. Aber allein durch den bloßen Bestand, ihre Unverwüstlichkeit, ist jene Aura entstanden, die der Jüngste sich mit Fünfzehn wahrscheinlich nur wegen der Krankenschwester einbildete. Lebte er in Siegen, wäre es wieder seine Theke. Selbst der Orthopäde, der noch nie gern in Kneipen verkehrte, wird fortan hinter die Moschee fahren, wenn er mal raus will in Siegen. Bei näherer Betrachtung entdecken sie, daß die beiden Griechen nicht untätig geblieben sind. Die Boxen klingen phantastisch, die Sofas sind neu bezogen, auch der Holzboden scheint abgeschliffen und poliert worden zu sein. Die Nebenräume sind nicht mehr so schummrig, daß man sich für Gesetzeswidrigkeiten in die Ecke verkriechen könnte. Sämtliche Renovierungen haben den erkennbaren Zweck, das Bestehende zu perfektionieren, nicht es zu verändern. Man kann sich jetzt Brillant in den Ohrringen leisten, und die Weste ist nicht mehr vom Vater, sondern aus Leder. Das ist die eigentlich überraschende Erkenntnis: daß man sich neu erfinden kann, gerade indem man jeder Veränderung widersteht. Neu ist ausschließlich die Welt draußen. Hinter der Stahlverarbeitung, die zur Moschee wurde, bildet sich die Zeit nur in den Spiegeln ab, in welche die Gäste an den Tresen links, rechts und gegenüber blicken. Wenn alles gut ist, tritt die Mutter nicht mehr mit dem Gyros aus der Küche, das heute an jeder Ecke angeboten wird, sondern sitzt über der Kneipe vorm Fernseher. An den Lärm hat sie sich längst gewöhnt.
    Als der junge Isfahani nach Teheran zurückkehrt, ist Agha Seyyed Abolhassan Tabnejad tot. Gleich am ersten Tag will er ihn besuchen, da erfährt er es von der Vermieterin, die darüber so heftig weint, daß er genausowenig an sich halten kann. Was soll er jetzt anfangen in der großen Stadt? Und wo? Der befreundete Photograph, der ihn bei dem Seyyed einführte, bricht ebenfalls in Tränen aus, kaum daß der junge Isfahani mit blutunterlaufenen Augen das Photogeschäft in der Lalehzar-Straße betritt, Teherans erste Adresse unweit des Kanonhaus-Platzes und genau gegenüber vom Grandhotel. Es dauert, bis die beiden sich beruhigen, es dauert mehrere Kunden lang, die den Laden aus Respekt vor den Trauernden wieder verlassen, um ihr Porträt am nächsten Tag abzuholen oder in Auftrag zu geben. – Lungenentzündung, stammelt der Photograph endlich, der Seyyed ist an Lungenentzündung erkrankt, nach Teheran gebracht worden und ein paar Tage später verstorben. Nachdem der Photograph alles getan hatte, was in seinen Kräften stand, alle Medikamente besorgt, alle Anweisungen des Arztes befolgt, fragte er, ob der Seyyed noch einen Wunsch habe. – Könntest du nur, murmelte der Seyyed halb im Delirium und lächelte, könntest du nur dieses Zimmer voll Watte stopfen und mich darauf legen, ach, das wär schön. Der Photograph stürzte zum Basar, kaufte eine Pferdeladung voll Watte und bettete den Seyyed wie ein Küken darauf. Wie in Verzückung stöhnte der Seyyed auf und murmelte einen Vierzeiler des gesegneten Rumis: »Mein Rock und Turban und mein Kopf: Für etwas weniger / Als ein Dirham wurden sie geschätzt; / Du wirst meinen Namen nicht vernehmen in der Welt, / Ich bin Niemand, Niemand, Niemand!« Ob er einen weiteren Wunsch habe, fragte der Photograph, ob er nicht jemanden sehen wolle? Wer immer es sei, wo immer er lebe, der Photograph bringe ihn ans Bett. Natürlich dachte er an die Familie des Seyyed, an den Vater vor allem, den ebenfalls berühmten Ajatollah. Er kenne ein paar Leute, flüsterte der Seyyed, aber mit keinem von ihnen habe er noch etwas zu tun. Alles, was ihn noch mit der Erde verbinde, seien die Bücher in den Regalen ringsum. Der Photograph solle sie Menschen schenken, die sie zu lesen verstünden. Dann bat der Seyyed um einen zweiten, den letzten Gefallen: Ich möchte, daß du nach meinem Tod nach Arak fährst. Als ich dort Gerichtspräsident war, habe ich eine abgelegene Hütte zum Studium und zum Gottgedenken gemietet. Vor der Hütte lag ein Garten voller Blumen. Die Blumen blühten zu der Zeit. Ich habe sie so geliebt, die Rosen, Lilien, Narzissen, so viele Stunden habe ich mit ihnen

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