Deiner Seele Grab: Kommissar Dühnforts sechster Fall (Ein Kommissar-Dühnfort-Krimi) (German Edition)
zugezogen hatte. »Sie war nicht in der Lage, ans Telefon zu gelangen, das auf dem Sideboard im Wohnzimmer stand.« So der zuständige Rechtsmediziner Dr. Walther Herbst, der von einem qualvollen Tod durch Verdursten ausgeht. »Mir ist vollkommen unverständlich, weshalb niemand auf die verzweifelte Situation der alten Frau aufmerksam geworden ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nicht um Hilfe gerufen hat«, meinte der Arzt in seiner Stellungnahme. Nachbarn räumten ein, im fraglichen Zeitraum gelegentlich Rufe gehört zu haben, denen sie keine Beachtung schenkten. Sie dachten, es wäre der Fernseher.
Dühnfort lehnte sich zurück. Schrecklich. Derartige Fälle häuften sich in letzter Zeit und würden in einer alternden Gesellschaft, deren Leistungsträger nicht bereit waren, die Ausgaben für Alte, Kranke und Schwache zu erhöhen, in erschreckendem Maße zunehmen. Um das zu prophezeien, musste man nicht schwarzsehen. Es reichte, Realist zu sein. Banken zu retten war wichtiger geworden als Menschenleben.
Was wollte der Mann aus Samaria ihm mit dieser Mail sagen? Hatte er etwas mit dem Mord zu tun? Oder war er nur ein Wichtigtuer, der die Gunst der Stunde nutzte, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen? Allerdings kannte er Emilys vollständigen Namen, und der war in der Zeitung nicht genannt worden. Niemand hatte bisher wirklich Notiz von diesem Mord genommen. Mediale Aufmerksamkeit würde der Mann aus Samaria so nicht bekommen, falls es das war, was er wollte.
Dühnfort sah die restlichen Links an. Sie führten zu ähnlichen Nachrichten über alte Menschen, die hilflos in ihren Wohnungen gestorben und deren Leichen über Wochen oder Monate unentdeckt geblieben waren, sowie zu Artikeln, die sich mit Missständen in Pflegeheimen befassten.
Da hatte jemand ein Anliegen. Deshalb Apfel und Trauben. Nicht als Zeichen der Erlösung, sondern vor allem als Zeichen der Aufmerksamkeit für die Tat. Ebenso gut hätte er Emily ein Schild um den Hals hängen können. Mordopfer .
Dühnfort stand auf. Etwas gefiel ihm an diesen Überlegungen nicht. Er stellte sich ans Fenster. Der Wind jagte graue Wolkenfetzen über den Himmel. Womit hatten sie es hier zu tun? Bis eben war er von einem Mord aus persönlichen Motiven ausgegangen, dem logischerweise eine Täter-Opfer-Beziehung zugrunde lag. Doch in dieser Mail zeichnete sich etwas anderes ab. Wenn Emily einzig und allein getötet worden war, um ein Schlaglicht drauf zu werfen, wie die Gesellschaft mit den Alten umging, konnte sie ein völlig willkürliches Opfer sein, dann hätte es jeden alten und gebrechlichen Menschen treffen können, dann stimmte ihre Theorie nicht.
Wie ernst mussten sie den Mann aus Samaria nehmen? Wie tickte so jemand? Was war von ihm zu erwarten? Dühnfort rief Beatrice Mével an.
Die Polizei-Psychologin residierte zwei Etagen tiefer und hatte tatsächlich sofort Zeit für ihn. »Zwanzig Minuten, dann muss ich zu einem Gerichtstermin. Reicht Ihnen das?«
»Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen.«
Er druckte die Mail aus und betrat kurz darauf das Büro von Beatrice Mével. Sie saß an ihrem Schreibtisch und empfing ihn mit einem Lächeln. Wie meistens trug sie ein moosgrünes Kleidungsstück, das ihre Augenfarbe unterstrich: Heute war es ein Seidenschal. Der Ansatz der kupferrot gefärbten Haare war ein paar Millimeter grau nachgewachsen, um die Augen strahlte ein Kranz feiner Fältchen. »Herr Dühnfort. Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Wo brennt es denn?«
Er nahm Platz, schilderte den Fall und reichte ihr den Ausdruck. »Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.«
Sie las den Text. »Was ist mit den Links?«
»Ein Teil führt zu Zeitungsartikeln über alte Menschen, die wochenlang tot in ihren Wohnungen lagen. Die anderen beziehen sich auf Artikel über Pflegemissstände.«
»Wie bibelfest sind Sie?«
»Geht so. Ich denke, der Absender sieht sich als barmherzigen Samariter. Lukas 10 bezieht sich wohl darauf.«
Sie nickte. »In der Geschichte vom barmherzigen Samariter geht es um Mitleid und Barmherzigkeit. Ein Mann wird von Räubern überfallen und halb totgeprügelt. Ein Priester und ein Levit gehen einfach vorüber, ohne zu helfen. Erst der Mann aus Samaria nimmt sich des Opfers an.«
Ja. So war das. Ganz aktuell. Im 21 . Jahrhundert. Man sah weg. Selten aus Feigheit, meist aus Gleichgültigkeit. »Was meinen Sie? Stammt die Mail vom Täter oder von einem Wichtigtuer?«
»Er nennt den Namen des Opfers, der nicht
Weitere Kostenlose Bücher