Delfinarium: Roman (German Edition)
wollte ich dich gerade fragen.«
Ich erzähle ihr, dass ich mit Max Braun um den See gehe, dass wir Susann im Haus gelassen haben.
»Spinnst du«, sagt sie. »Erinnere dich mal, wie sich der Typ auf dem Parkplatz aufgeführt hat.«
»Ach«, sage ich.
»Pass bloß auf, ich traue dem nicht über den Weg.«
»Na ja«, sage ich. »Und du?«
Sie fragt mich, ob ich von dem Gerichtsurteil gehört habe.
»Nein«, sage ich.
»Das Oberverwaltungsgericht hat die Enteignung der Grundeigentümer zwecks Verlängerung der Werkspiste wegen substanzieller Mängel des von der Wirtschaftsbehörde erlassenen Planfeststellungsbeschlusses verboten«, sagt sie. »Die Gemeinnützigkeit ist nicht erwiesen.«
»Hui«, sage ich, weil ich nur halb verstanden habe, was sie gesagt hat. »Glückwunsch, oder?«
»Nur ein Teilerfolg«, sagt sie. »Jetzt geht es erst richtig los. Enteignen können sie jetzt nicht mehr. Jetzt werden sie erst recht versuchen, zu bestechen und die Leute im Dorf
gegeneinander auszuspielen. Und sie werden uns öffentlich durch den Schmutz ziehen, ich sage nur: Bild -Zeitung, Arbeitsplätze, Globalisierung. Da werden die Leute blind.«
»Tja«, sage ich. Ich bin unendlich weit weg, fällt mir auf.
Sie sagt: »In dem Gutachten ist von 4000 zusätzlichen Arbeitsplätzen die Rede und die Presse druckt diese Zahl, als sei sie ein amtliches Endergebnis. Die Zahl fungiert als zentrales Argument, dabei ist sie nur eine Behauptung und durch nichts belegt. In Wahrheit geht es um ein paar hundert Leih- und Teilzeitarbeitsplätze.«
»Äh, Petra«, sage ich.
Es kommt mir so fern vor. Als wäre ich schon wochenlang fort und käme niemals wieder.
»Viel Glück«, sage ich.
»Tja«, sagt sie. »Ebenfalls. In zwei Tagen bist du zurück, okay?«
»Klar«, sage ich.
Als wir zurück ins Haus kommen, riecht es nach Essen. Ein Topf mit Kartoffeln dampft auf dem Herd. Marie oder Susann steht vor der Spüle und schneidet Steckrüben klein. Sie hat sich umgezogen, sie trägt eine braune Cordhose und ein
T-Shirt, auf dem Blue steht, ein rosa T-Shirt mit einem grünen Schriftzug. Max lächelt.
»Hier, guck, das ist das Einzige, was ich gefunden habe. Mit Datum. Das hat sie geschrieben, bevor sie verschwunden ist.«
Er hat mich mit in Maries Arbeitszimmer genommen. Maries Blick, wenn sie am Schreibtisch sitzt: Garten, ein Zaun, der das Grundstück vom Nachbargrundstück trennt, davor Stachelbeerbüsche. Ich schaue mich im Raum um, ein grüngraues, altes Sofa, zwei Regale mit alten Büchern, ein Holzstuhl wie in der Schule, ein Poster von Virginia Woolfe an der Wand.
Max zieht eine Schublade eines Schreibtisches aus den siebziger Jahren auf, ein richtiger Schülerinnenschreibtisch, weiß, mit braunen Griffen.
»Ich habe es ausgedruckt.« Er drückt mir ein Stück Papier in die Hand.
Auf dem Papier steht: »Tief hängende Wolken krochen durch Täler und Schluchten, deckten bewaldete Berghänge zu. Zwischen Wolkenfetzen sah man riesige Felsen liegen. Schlief dort nicht ein Drache? Ein Land, das Platz für Träume lässt. Sie sah sich wieder zusammen mit Jonathan Löwenherz aufrecht auf einem weißen Pferd durch Nangilaja galoppieren, die Lanze für das Gute hoch erhoben. Spürte die Sehnsucht alter Kindertage nach dem wahren Leben in der Brust. Wie wild ist wohl der Drache dort oben im Nebelland? Führt der Weg vom Prinzen zur Prinzessin nicht immer über Drachenblut? Nehme ich die Herausforderung an?«
Ich gebe Max das Blatt zurück. »Schön«, sage ich, dabei finde ich es in Wirklichkeit kitschig. Oder schön und kitschig. Eher ein Beweis, dass Susann nicht Marie ist, denn kitschig ist mir Susann bislang nicht vorgekommen.
»Das spricht doch total dafür, dass sie ihr Verschwinden geplant hat.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagt er. »Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es nicht so ist.«
Ich schaue noch einmal auf das Blatt in Max’ Hand.
» Die Brüder Löwenherz ist ein Westkinderbuch«, sage ich.
»Na und«, sagt er. »Meinst du, die haben hier nur Ostkinderbücher gelesen?«
Ich sage nichts und er schaut mich streng an, er macht: »Tsss!«
Max leuchtet mir den Weg mit einer Kerze. Es geht eine steile Holztreppe hinauf, dann durch einen langen, kalten, dunklen Flur, bis wir vor einer geschlossenen Holztür unter dem Dach Halt machen. Max öffnet die quietschende Tür. Dahinter liegt eine Kammer mit zwei Fenstern auf den dunklen See hinaus, eine Kammer mit Dachschrägen und vier alten Betten darin, eines ist
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