Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Mutesselim!«
»Von hier aus kannst Du auch nichts sehen. Du wirst wohl hinabsteigen müssen, Effendi!«
»Wenn Du es für nöthig hältst, werde ich es thun,« erwiderte ich unbefangen.
Ich trat zur Seite, faßte die Thüre, hob sie aus den Angeln und legte sie quer vor der Thüröffnung auf den Boden nieder, so daß ich sie von dem Loche aus stets im Auge behalten konnte. Das hatte der gute Commandant nicht erwartet; es machte ihm einen sehr dicken Strich durch seine Rechnung.
»Was thust Du da?« frug er enttäuscht und ärgerlich.
»Ich habe die Thüre ausgehoben, wie Du siehst,« antwortete ich.
»Warum?«
»O, wenn man Spuren entdecken will, so muß man sehr vorsichtig sein und Alles im Auge behalten!«
»Aber das Abnehmen der Thüre ist doch nicht nothwendig. Du erhältst dadurch nicht mehr Licht in das Loch, als vorher.«
»Richtig! Aber weißt Du, welche Spuren die sichersten sind?«
»Welche?«
»Diejenigen, welche man in dem Angesichte eines Menschen findet. Und diese« – dabei klopfte ich ihm vertraulich auf die Achsel – »weiß ein Effendi aus Germanistan ganz sicher zu finden und zu lesen.«
»Wie meinst Du das?« frug er betroffen.
»Ich meine, daß ich Dich wieder einmal für einen großen Diplomaten halte. Du verstehst Deine Geheimnisse und Absichten ausgezeichnet geheim zu halten. Und darum werde ich Dir auch Deinen Willen thun und jetzt hinunterspringen.«
»Was meinst Du für Absichten?«
»Deine Weisheit hat Dich auf den ganz richtigen Gedanken geführt, daß ein Gefangener es am besten errathen könne, wie es einem andern Gefangenen möglich gewesen sei, zu entkommen. Allah sei Dank, daß er so kluge Männer geschaffen hat!«
Ich sprang hinunter in das Loch und bückte mich, um zu thun, als ob ich am Boden suche. Dabei jedoch sah ich unter dem Arm hinweg und bemerkte einen Wink, den der Mutesselim dem Agha gab. Beide bückten sich, um die schwere Thüre aufzunehmen und in die Angeln zu bringen. Ich drehte mich um.
»Mutesselim, laß die Thüre liegen!«
»Sie soll dahin, wohin sie gehört.«
»So gehe ich auch wieder dahin, wohin ich gehöre!«
Ich machte Anstalt, mich emporzuschwingen, was nicht sehr leicht zu bewerkstelligen war, weil das Loch eine bedeutende Tiefe hatte.
»Halt, Du bleibst!« gebot er mir und gab zugleich einen Wink, auf welchen mehrere bewaffnete Arnauten herbeitraten. »Du bist mein Gefangener!«
Der gute Selim erschrak. Er starrte erst den Mutesselim und dann mich an.
»Dein Gefangener?« frug ich. »Du scherzest!«
»Es ist mein voller Ernst!«
»So bist Du über Nacht verrückt geworden! Wie kannst Du glauben, daß Du der Mann seist, der mich gefangen nehmen kann!«
»Du bist ja schon gefangen und wirst nicht eher wieder frei kommen, als bis ich den Entflohenen entdeckt habe.«
»Mutesselim, ich glaube nicht, daß Du ihn entdecken wirst!«
»Warum?«
»Dazu gehört ein Mann, welcher Muth und Klugheit besitzt, und mit diesen beiden Eigenschaften hat Dich Allah in seiner Weisheit verschont.«
»Du willst mich verhöhnen? Siehe zu, wie weit Du mit Deiner eignen Klugheit kommst! Legt die Thüre an und schiebt die Riegel vor!«
Jetzt zog ich eine der Pistolen.
»Laßt die Thüre liegen, das rathe ich Euch!«
Die braven Arnauten blieben sehr verlegen stehen.
»Greift zu, Ihr Hunde!« gebot er drohend.
»Laßt Euch nicht erschießen, Ihr Leute!« sagte ich, indem ich die Hähne spannte.
»Wage es, zu schießen!« rief der Mutesselim.
»Wagen? O, Mutesselim, das ist ja gar kein Wagniß. Mit diesen Leuten werde ich ganz gut auskommen, und Du bist der Erste, den meine Kugel trifft!«
Die Wirkung war eigenthümlich, denn der kühne Held von Amadijah verschwand sofort von der Thüröffnung. Aber seine Stimme ertönte:
»Schließt ihn ein, Ihr Schurken!«
»Thut es nicht, Ihr Männer, denn ich werde Den, der diese Thüre zu schließen wagt, ganz sicher in die Dschehennah schicken!«
»So schießt Ihr wieder!« ertönte es von der Seite her.
»Mutesselim, vergiß nicht, wer ich bin! Eine Verletzung meiner Person würde Dich Deinen Kopf kosten.«
»Wollt Ihr gehorchen, Ihr Buben! Oder soll ich es sein, der Euch erschießt? Selim Agha, greif zu!«
Der Neffe des Schwagers von der Schwester des Enkelsohnes der Mutter von der Stiefschwester der ›Myrte‹ war dem Beispiele seines Vorgesetzten gefolgt und hatte sich in der Entfernung an die Mauer gedrückt. Er befand sich jetzt gewiß in sehr großer Verlegenheit, aus der ich ihn erretten
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