Dem Tod auf der Spur
Stahlseil, das der Kapitän bereits entdeckt hatte. Es war 15 Meter lang, hatte einen Durchmesser von 0,6 Zentimetern und war mehrfach um das Brückengeländer geschlungen und zusätzlich mit einem Karabinerhaken daran befestigt. Die Schlinge des Stahlseils hing sechs Meter tief von der Brücke herab. Auf dem Fußweg der Brücke lag ein Rucksack, der persönliche Gegenstände und Ausweispapiere von Holger Evers enthielt – und einen Abschiedsbrief. In dem Brief bat Evers seine Mutter um Vergebung und erklärte seine Gründe. Er habe Probleme an seinem Arbeitsplatz gehabt und unter chronischen Stimmungsschwankungen gelitten, die ihn immer wieder in seinem Handeln lähmten.
Wegen des mit einer Schlinge versehenen Stahlseilsund des Abschiedsbriefes glaubte keiner der beteiligten Ermittler an Mord. Andererseits sind Selbsttötungen durch Enthauptung ausgesprochen selten. Und noch seltener kommt es zur Enthauptung durch Erhängen. Von 7.700 Todesfällen, die wir zwischen 1995 und 2002 in unserem Institut untersucht haben, hat es sich nur in zehn Fällen um Tod durch Dekapitation gehandelt. Acht dieser Suizidenten waren von einem Zug überrollt worden. Zur Enthauptung durch Erhängen war es lediglich in zwei Fällen gekommen.
Der Grund dafür, dass diese Todesursache auch uns Rechtsmedizinern kaum begegnet, hat hauptsächlich mit physikalischen Gesetzen zu tun.Wenn sich jemand eine Schlinge um den Hals legt und sich in die Schlinge gleiten oder fallen lässt, so dass das eigene Körpergewicht Zug auf die Schlinge ausübt und diese zuzieht, werden im Normalfall die Halsschlagadern abgedrückt, was zu Blut- und Sauerstoffleere im Gehirn und so zum Tod führt. Zur Dekapitation kommt es nur dann, wenn gleichzeitig mehrere Voraussetzungen erfüllt sind. Entscheidende Faktoren sind die Stabilität des Seils, das Körpergewicht und die Fallhöhe. Das Seil muss reißfest und sehr dünn sein – wie in diesem Fall ein Stahlseil mit nur 0,6 cm Durchmesser. Der Suizident muss aus großer Höhe bzw. in große Tiefe springen – wie hier von einer neun Meter hohen Brücke mit einem sechs Meter langen Seil um den Hals. Da das Seil eine Weile brauchte, bis es sich spannte und Zug auf den Hals ausübte, kam es zu erheblicher Zugspannung auf den Hals – ein starker Impuls, der bei einem stabilen und dünnen Seil wie diesem Gewebe und Bandverbindungen zwischen den Halswirbeln komplett durchtrennen konnte. Doch dabei spielte natürlich auch das Körpergewicht des Suizidenten eine Rolle.
Kriminaltechniker haben spezielle Formeln, mit denen sie die Fallenergie, die zur Kopfabtrennung notwendig ist, exakt berechnen können. Diese Formeln setzen Fallhöhe, Körpergewicht und Erdbeschleunigung miteinander ins Verhältnis. Werte von 12.000 Newton und mehr führen in der Regel zur Enthauptung.
Holger Evers wog 102 Kilo. Er hatte das dünne, sechs Meter lange Stahlseil an der Balustrade befestigt, sich die Schlinge um den Hals gelegt und sich dann durch einen Sprung von der Brücke in den Tod gestürzt. Das zusammen ergab die nötige kinetische Energie, um seinen Kopf vom Rumpf zu trennen.
Was nach der Dekapitation durch Erhängen geschah, konnten wir nun, da wir die Zusammenhänge kannten, leicht nachvollziehen. Der Körper des Mannes war auf der Uferböschung gelandet, während der abgetrennte Kopf die schräge Böschung hinuntergerollt und im Elbwasser gelandet war. Dort wurde er von der Strömung erfasst und erst nach etwa drei Wochen 25 Kilometer flussabwärts an Land gespült. Das erklärt auch, warum nur der Kopf, nicht aber der Körper von Leichenfäulnisveränderungen in Mitleidenschaft gezogen war.
Der grausige Fund war also, wie in so vielen anderen Fällen, die Folge davon, dass ein Mensch mit aller Macht aus dem Leben scheiden wollte – auch wenn die Enthauptung ganz sicher dabei nicht einkalkuliert war.
Ein Kopf ohne Körper – der Anblick erschreckt und fasziniert die Menschen seit jeher. An keinem anderen Körperteil zeigen sich Charakter und Einzigartigkeit des jeweiligen Menschen so sehr wie am Kopf, und neben dem Herzen ist kein anderer Körperteil für das Überleben des Gesamtorganismus so wichtig. Fast alle anderen Organe kann man transplantieren oder ihre Funktion mittels Pharmaka ersetzen. Beim Kopf geht das nicht. Im knöchernen Schädel befindet sich das Gehirn, das nicht nur durch seine mentalen und kognitiven Funktionen, sondern auch durch die von hier gesteuerten Emotionen jeden Menschen
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