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Demudis

Demudis

Titel: Demudis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Blankertz
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Norbert mitteilen ließ, übereingekommen, die Angelegenheit in die Obliegenheit des Klosters zu geben, und der ehrwürdige Vater und Herr Erzbischof hat einen heiligen Eid geschworen, sich an den Spruch zu halten.«
    »Wer führt den Vorsitz? Abt Norbert? Wer ist angeklagt? Welche Missetat gilt es zu richten? Wo ist der Graf? Wird es Gerechtigkeit für Schwester Guta geben?« Anstatt klarer zu sehen, wurde Demudis immer verwirrter.
    »Vertraue auf die Fügung des Herrn, tapfere Schwester«, ermahnte die Magistra. »Mehr als das, wovon ich dir gesprochen habe, weiß ich auch nicht.«
     
    *
     
    Köln, Predigerkloster, am Vormittag des 16.2.1327
     
    Johannes hatte seit fünfzig Jahren nicht gesprochen. Er ging, nachdem Abt Norbert ihn für diesen Tag vom Gelübde entbunden hatte, damit er zu Gericht sitzen könne über Bruder Hermann und all die anderen, die in die Angelegenheit verwickelt waren, ins Infirmarium. Es war eine heikle, ausweglose Aufgabe, Gerechtigkeit walten zu lassen, den Glauben zu bewahren und die Ehre des Ordens zu schützen. Er stieß Physikus Ansgar, der über einen Becher gebeugt war, in welchem er Heilkräuter mit einem Stößel stampfte, an die Schulter und bedeutete ihm, dass er sprechen wolle. Schließlich musste er erst erproben, ob er es überhaupt noch konnte.
    »… wie hört sich das an?«, fragte er.
    »O Bruder Johannes!«, rief Physikus Ansgar erfreut. »Du sprichst!«
    Vor Jahren war Johannes selbst Physikus gewesen. Er dachte jetzt daran, wie viel Hoffnungen die Brüder gehegt hatten, weil sie ihn als einen der besten Ärzte der Welt hatten, den Schüler des großen sarazenischen Gelehrten Averom. Der damalige Abt hatte sogar davon gesprochen, für ihn zu erreichen, dass er vorzeitig zum Magister der Theologie ernannt werden könnte, eine Ehre, die vor ihm nur dem Pariser Magister Thomas von Aquin zuteil geworden war. Damals waren die Lehren von Magister Thomas nicht weniger umstritten gewesen als heute diejenigen seines würdigen Nachfolgers Meister Eckhart. Ja, in jenem schicksalhaften Jahre, als er das Schweigegelübde abgelegt hatte, waren Thesen des Magister Thomas’ vom Erzbischof in Paris verboten worden. Johannes lief ein kalter Schauder über die Schulter. Wie glücklich er sich schätzen konnte, dass der Herr ihm ein Leben geschenkt hatte, das lang genug währte, um miterleben zu dürfen, dass der große Magister Thomas, den er selbst noch gehört hatte, zum Heiligen und Lehrer der Kirche erhoben worden war. Dereinst wird auch dem Meister Eckhart eine ebensolche Ehre zuteil werden, freute sich Johannes. Er erinnerte sich der letzten Worte, die er gesprochen hatte, bevor er das Gelübde ablegte: Ich bitte Euch, ehrwürdiger Vater und Herr Erzbischof – es war übrigens noch Siegfried gewesen – um das Leben dieser elenden Sünderin und gebe Gott dafür das Versprechen, auf ewig zu schweigen … Die Worte von Physikus Ansgar rissen ihn aus seinen Gedanken. Johannes war es gewohnt zuzuhören, aber nicht zu antworten. Seine Gespräche fanden seit nunmehr fünf Jahrzehnten bloß in seinem Innern statt:
    »Was wolltest du sagen?«
    »… Stimme … Dispens … um … nachher …«Johannes hörte sich selbst, doch bloß bruchstückhaft. Er hatte Physikus Ansgar den Grund des Dispenses mitteilen wollen, allerdings nur einige wenige Worte laut herausgebracht.
    Physikus Ansgar lachte freundlich. »Du musst alle Worte aussprechen. Was du sagst, verstehe ich gut, aber du vergisst die Hälfte der Worte.«
    »Worüber … sprechen?« Johannes war verwirrt. Er durfte jetzt sprechen. Er musste sogar sprechen, um seine Stimme zu üben, aber was sollte er sagen?
    »Das musst du doch wissen!«, rief Physikus Ansgar. »Hungerst du nicht danach, dich mitteilen zu können?«
    »Nein, alles leer.«
    »Leerer Magen, großer Hunger.«
    »Wer lange hungert, verliert auch den Appetit.«
    »Ha, ha. Das widerspricht doch jeder Erfahrung.«
    Johannes biss sich auf die Lippen. Nach fünfzig Jahren des Schweigens als Erstes eines Fehlers in der Logik überführt zu werden, kam ihn hart an. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
    Physikus Ansgar sah ihm erschrocken in die Augen. »Warum weinst du, Bruder? Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich wollte dich niemals beleidigen …«
    »Bitte, Bruder Ansgar. Es ist nur … ich habe das Gefühl, über die Jahre des Schweigens auch das Denken verlernt zu haben.«
    »Das begreife ich nicht.«
    »Die Worte, sie scheinen nicht zu dem zu passen, was ich

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