Demudis
Ungewissheit über das Schicksal von Schwester Guta, des Ausbleibens von Schwester Demudis und der Anklage gegen Hechard ihre Gedanken bei der Gabenbereitung hinderten, das Blut und den Leib des Herrn in der rechten Weise zu verkosten. Sie bat die Mittlerin zwischen Gott und den Menschen, die Jungfrau Maria, ihr die Gegenwart ihres geliebten Sohnes zu erbitten. Auf diese Fürbitte hin, so glaubte Sela, erblickte sie den König der Glorie, Jesus Christus, auf einem hohen kristallklaren Throne, von dessen Vorderseite zwei wundersame laue Bächlein ausgingen, die ihr einen wonnigen Anblick bescherten. Sie begriff, dass diese Zeichen der Gnade der Sündenvergebung und der geistlichen Tröstung waren. Während der Opferung der heiligen Hostie nun sah Sela, wie der Herr vom Throne sich erhob und sein heiliges Herz gleich einer hell leuchtenden, bis oben gefüllten und überströmenden Lampe hochhob. Diese Lampe floss, wie es ihr schien, nach allen Seiten und mit so drängender Kraft über, dass große Tropfen wieder aufspritzten, und dennoch ward die Fülle der Lampe nicht vermindert. Darin erkannte Sela das Zeichen, dass der Herr in sich selbst die allselige Fülle bleibt und niemals irgendwelchen Abbruch leidet, auch wenn er aus der Fülle seines Herzens allen übergenügsam Gnade spendet. Nun sah sie auch, wie die Herzen aller, die zugegen waren, ebenfalls als Lampen wie durch eine Schnur mit dem Herzen des Herrn verbunden waren. Manche davon standen aufrecht und brannten voll Öl, wie diejenige von Hechard oder Ellikint, andere dagegen waren leer und hingen unnütz nach unten wie diejenige des ehrwürdigen Vaters und Herrn Erzbischofs Heinrich. Sie verstand, dass die brennenden und aufgerichteten Lampen die Herzen derer bezeichneten, die mit Andacht und Sehnsucht der Messe beiwohnten, die umgestürzten aber die Herzen derjenigen, die es versäumten, sich durch Andacht zu erheben.
Nach der Messe verlas Bruder Nikolaus einen Text in lateinischer Sprache. Bei denen, die ihn verstanden, brach heftiges Gemurmel aus. Hechard gebot ihnen Ru he.
»Brüder und Schwestern, damit ihr alle wisset, was mich betrifft, so werde ich für die, die nicht der heiligen Sprache, sondern nur des Diutischen mächtig sind, dartun, was ich zur Protestatio gegen die ungerechte Anklage wider meine Person mitzuteilen habe, im Jahre 1327 nach der Geburt des Herrn, der zehnten Indiktion, am 13. Tage des Monats Februar und dem Fest der heiligen Märtyrerin Eulalia, ungefähr zur sechsten Stunde – zur sechsten Stunde nämlich habe ich diese amtliche Urkunde vor Zeugen verlesen und unterzeichnet.
Ich, Meister Eckhart, Doktor der heiligen Theologie, erkläre, Gott zum Zeugen anrufend, vor allen, dass ich jeglichen Irrtum im Glauben und jede Abirrung im Lebenswandel, immer und so viel als mir möglich war, verabscheut habe. Aus diesem Grunde widerrufe ich, sofern sich etwas Irrtümliches finden sollte, was ich geschrieben, gesprochen oder gepredigt hätte, privat oder öffentlich, wo und wann auch immer, unmittelbar oder mittelbar, sei es aus schlechter Einsicht oder verkehrten Sinnes. Ich möchte, dass ihr wisst, dass ich alles, was einen Irrtum enthalten könnte, als nicht gesagt und nicht geschrieben betrachtet haben will.«
Sek schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist widerlich. Das ist peinlich. Ich fasse es nicht«, schimpfte sie vor sich hin. Wie konnte Hechard, bloß um sein armseliges Leben zu retten, den Herrn verleugnen?
»Aber Magistra«, sagte Schwester Mentha, die auf der anderen Seite neben Sela saß, »gibt es einen geschickteren Schachzug? Ohne irgendetwas Bestimmtes zu widerrufen, hat er dem Erzbuben jede Möglichkeit genommen, ihn als Ketzer anzuklagen. Was jetzt nur bleibt, ist einzelne Sätze als ketzerisch bezeichnen zu lassen. Und da ist im wahrsten Sinne des Wortes kein Feuer mehr hinter.«
*
Köln, Beginenkonvent der Bela Crieg,
am Abend des 15.2.132 7
Als ob sie nicht schon genug Sorgen hätte, musste sich Sela nun auch um Schwester Hardrun ängstigen. Zwar war die Anklage gegen Hechard zumindest abgemildert worden, aber Schwester Hardrun hatte seit dem Angriff auf den Konvent nicht nur nicht geschlafen und nicht gegessen, sondern auch nicht getrunken.
Sela wusste nicht genau, wie viele Jahre es her war, dass Schwester Hardrun, damals noch stolze Bürgerfrau, die Gnade der übernatürlichen Reinheit des Leibes und der Seele von der gebenedeiten Jungfrau erhalten hatte. Ihr war bedeutet worden, dass sie
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