Den Tod im Blick- Numbers 1
spürte, wie sie sich in mir breitmachten. Klang für mich irgendwie, als ob Britney zu viel Talkshows gesehen hätte. So einfach ist das Leben nicht. Jedenfalls nicht so, dass du über die Wut, die du in dir hast, einfach wegkommen kannst. Vor allem wenn sie das Einzige ist, was dich am Leben hält.
Aber jetzt war sie ja nicht mehr das Einzige, was ich hatte. Spinne – die Sehnsucht, ihn zu sehen, das Bedürfnis, ihn zu retten – hatte mir etwas Neues gegeben.
Plötzlich gab es ein Geräusch, einen heftigen Schlag von unten, und wir beide fuhren entsetzt hoch.
»Das wird Dad sein, der nach Hause kommt – ich geh mal nachschauen.«
Britney stieg aus dem Bett, zog ihren Bademantel an und ging nach unten. Sie ließ die Tür einen Spalt auf. Ich nahm den Wecker von ihrem Nachttisch und hielt ihn in den Lichtschein, der vom Flur hereindrang. Viertel nach zwei. Ihre Stimmen trieben die Treppe hoch, Britneys gedämpftes Murmeln und die tieferen Basstöne ihres Vaters. Ich verstand nur wenige Worte, aber die, die ich mitbekam, ließen mich aus dem Bett springen und mich hinter die offene Tür hocken. Mein Herz hüpfte wild in der Kehle.
»… total ausgerastet … acht von uns … verdammt stark …«
Ich öffnete die Tür ein bisschen weiter und strengte mich verzweifelt an, mehr zu verstehen. Die Stimmen unten duellierten sich mit Spinnes Worten in meinem Kopf: Ich werd nicht still und leise mitgehen, Jem. Ich werd gegen sie kämpfen. Genau das.
Was hatte er getan?
»… in seiner Zelle gestorben … Verhör …«
O mein Gott. Er ist ausgeflippt, wie er gesagt hatte. Ich hatte ihm erklärt, er sollte es nicht tun. Ich hatte gesagt, das wär es nicht wert. Wie konnte das passieren? Wie konnte alles zu Ende sein, drei Tage zu früh? Ich wollte losschreien – es war mir egal, ob sie mich fanden. Wenn Spinne tot war, gab es für mich nichts mehr. Mein ganzer Körper war ein einziger Schrei, meine Haut elektrisiert. Wir waren betrogen worden, betrogen um unsere letzten Stunden, betrogen um die Möglichkeit, uns zu verabschieden – es war unvorstellbar.
Die Stimmen waren jetzt näher, direkt vor der Tür. Ich hatte nicht gemerkt, wie sie die Treppe hochkamen.
»Gute Nacht, mein Schatz. Versuch ein bisschen zu schlafen. Ich geh noch schnell unter die Dusche.«
»Okay. Nacht, Paps.«
Britney kam zurück ins Zimmer. Sie hatte einen Becher in der Hand und stieß einen kleinen Schreckenslaut aus, als sie mich hinter der Tür entdeckte. Ich sah, wie sie die Augen aufriss. Schnell hob sie den Zeigefinger an den Mund. Dann schloss sie die Tür und ich sackte dagegen. Stumme Tränen rannen mir übers Gesicht. Sie hockte sich neben mich.
»Was ist?«, flüsterte sie.
Ich bekam kein Wort raus.
Er war tot.
Es war alles vorbei.
»Erzähl mir, was los ist, wenn mein Dad unter der Dusche steht. Komm wieder ins Bett – ich hab dir Tee gemacht. Hier.« Sie hatte den Becher abgestellt, jetzt half sie mir auf die Füße und führte mich wieder zum Bett.
Ich konnte den Tee nicht trinken. Ich war damit beschäftigt, weiterzuatmen. Schwarze Trauer pulsierte durch meinen Körper. Nach ungefähr einer Minute hörten wir die Schlafzimmertür und dann, wie die Dusche angestellt wurde. Britney rutschte im Bett weiter vor und legte ihre Hände auf meine Beine.
»Jetzt kannst du reden, aber sei trotzdem leise. Also, was um Himmels willen ist los?«
»Er ist tot, stimmt’s? Ich hab euch gehört. Er ist tot.« Die Worte klangen verzerrt, verschwommen, aber irgendwie verstand sie mich trotzdem.
»Nein, du Dummkopf, es war der andere.«
»Was?«
»Der andere Typ, den sie festgenommen haben. Ein riesiger Kerl, hat Dad erzählt, der überall am Körper Tattoos hatte.«
»Tattoogesicht?«
»Er ist in seiner Zelle ausgerastet, hat alles kurz und klein geschlagen. Die haben acht Leute gebraucht, um ihn aufzuhalten, und dann ist er mitten in dem ganzen Chaos gestorben.«
»Er ist tot?«
»Sie wissen nicht, ob ihn jemand geschlagen hat oder ob es ein Herzanfall war. Auf dem Revier ist jetzt jedenfalls die Hölle los. Dad war einer der acht – sie haben ihn bis auf weiteres vom Dienst suspendiert.«
Tattoogesicht, nicht Spinne. 11122010.
»Britney?«
»Ja?«
»Weißt du, wann es passiert ist? Um wie viel Uhr?«
»Kurz vor Mitternacht. Unmittelbar vor Dads Schichtende.«
Es war, als ob die Dinge wieder an ihren richtigen Platz gerückt wurden. Der Boden unter meinen Füßen hatte für eine Weile geschwankt, die
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