Den Tod im Griffl - Numbers 3
gemalt, eine Vision der großen Katastrophe, stimmt’s? Das war ein ziemlich beeindruckendes Bild.«
Noch so was, worüber ich ungern rede. Meine Träume, meine Albträume – es ist am besten, sie zu vergessen. Ich will nicht, dass jemand mir in den Kopf guckt.
»Woher kam das Bild, Sarah? Woher wusstest du, was geschehen würde?«
»Das war vor zwei Jahren. Was bringt es, jetzt drüber zu reden?«
Sie legt den Ordner vor sich auf den Tisch. Ich versuche draufzuschauen, doch sie schiebt ihn von mir weg.
»Aber es ist beeindruckend, Sarah. Du hast die Zukunft vorhergesehen. Du warst in der Lage, sie auszudrücken. Woher kam diese Vision?«
»Keine Ahnung.«
»Jetzt komm schon. Sie muss doch irgendwo herkommen, du hast sie doch nicht einfach geträumt.«
Sie hat mich kalt erwischt. Sie bedrängt mich und ich möchte sie stoppen.
»Aber genau so war es«, antworte ich. »Ich habe es geträumt. Daher kam das Bild.« Ich sehe ihr jetzt trotzig in die Augen. Sie sitzt auf der Sofalehne und beugt sich vor.
»Du hattest einen Traum?«
»Ja. Immer wieder denselben. Jede Nacht.«
»Und du hast darin Adam und Mia gesehen. Und die Stadt, wie sie in Trümmern liegt und Häuser in Flammen stehen?«
»Ja. Ja. Alles. Aber jetzt sehe ich es nicht mehr. Es ist weg. Vorbei.«
»Und was träumst du jetzt, Sarah?«
»Nichts. Ich habe keine Träume mehr.«
Ich habe Mia an diesem kalten, einsamen Ort verloren. Ich schreie ihren Namen …
»Du träumst gar nichts?«
»Genau.«
»Und Mia, wie passt sie da rein?«
»Gar nicht. Sie ist meine Tochter, sonst nichts.«
Ich will, dass die Fragen endlich aufhören.
»Was, glaubst du, sieht sie? Sieht sie Zahlen, Todesdaten wie ihr Dad oder Visionen wie du?«
Ich hebe Mia vom Fußboden hoch und setze sie auf meinen Schoß. Sie nimmt die Puppe mit.
»Nichts. Sie ist ein ganz normales Kind.«
Marion lächelt, aber es ist nur ihr Mund, der sich verändert. Ihre Augen sind kalt und forschend.
»Sie ist viel weiter als gleichaltrige Kinder, Sarah. Testen wir sie doch mal, einverstanden? Vielleicht kann sie uns ja irgendwas malen.«
Sie steht auf und geht um den Kaffeetisch rum.
»Lass Mia in Ruhe«, sage ich. Das Ganze läuft aus dem Ruder. Mit Fragen über mich kann ich umgehen, aber Mia sollen sie gefälligst in Ruhe lassen.
»Ich fass sie nicht an.«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Lass es uns damit versuchen.«
Marion greift in einen Schrank und zieht einen Stapel Papier und ein paar Wachsmalstifte heraus.
»Mia«, sagt sie. »Magst du dir eine schöne Farbe aussuchen und mir ein Bild malen?«
Mia schaut sie an, zieht ein Gesicht und vergräbt den Kopf an meiner Schulter. Sie hat Marion noch nicht verziehen.
Unverdrossen legt Marion die Kreiden und das Papier auf den Fußboden. Mia schaut sie einen Moment lang mit einem faszinierten Seitenblick an. Dann gleitet sie von meinem Schoß, kniet sich neben die Kreiden, beugt sich nach vorn, dass ihr Gesicht nur noch ein paar Zentimeter über dem Papier ist, und fängt an zu kritzeln. Ich sage kritzeln, aber in Wirklichkeit sind nur ihre allerersten Bewegungen unkontrolliert. Ich wollte das nicht, aber es bleibt mir nichts anderes übrig, als zuzuschauen. Marion blickt aufmerksam über Mias Schulter.
Nach einer Minute malt Mia ganz bestimmte Zeichen und Formen auf das Papier. Sie hat die Kreide mit den Fingern gedreht, so dass sie sie nicht mehr in der Faust hält, sondern zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Das ist erstaunlich für eine Zweijährige«, sagt Marion. »Das muss sie von dir haben.«
»Sie hat mich noch nie malen sehen«, antworte ich und merke plötzlich, dass es stimmt. Einen Moment lang werde ich traurig, wegen des Teils von mir, der verloren ist, und wegen der Kindheit, die Mia nie gehabt hat.
»Das macht sie intuitiv«, sagt Marion. »Von innen heraus. Sie hat den Dreh raus, findest du nicht?« Sie macht sich Notizen im Ordner, dann schaut sie hoch und beobachtet wieder Mia, um ja nichts zu verpassen.
Ich weiß nicht, was Mia zeichnet, aber es soll eindeutig etwas darstellen – sieht aus wie eine Kartoffel, aus der ein paar Striche herausragen. Danach entscheidet sie sich sehr bewusst für etwas anderes. Sie schaut auf die Kreiden in der Plastikhülle, steckt die blaue zurück und zieht stattdessen eine rosafarbene raus. Dann fährt sie damit außen um die blaue Linie herum. Schließlich wandert auch die rosafarbene Kreide zurück und eine rote wandert heraus. Mit ihr zeichnet sie eine
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