Denn dein ist die Schuld
einvernehmen?«, fragte Marino und überflog Sandra Leonis Protokoll ihres Telefongesprächs mit der angeblichen »Susie«.
»Es ist sehr freundlich von dir, mich um etwas zu bitten, was eigentlich dir zusteht. Du bist hier der Chef. Aber da du mich schon gefragt hast, ich glaube, es wäre besser, wenn ich das erste direkte Gespräch allein mit ihr führen würde, da sie mich schon kennt und mir vertraut. Ich könnte sie vielleicht ins Verhörzimmer bringen, und du könntest vom Kabuff aus zuhören.«
Das »Kabuff«, auch »Aquarium« genannt, war ein enger, erhöht liegender kleiner Raum, der an das Verhörzimmer angrenzte. In die Verbindungswand war eine getönte Glasscheibe eingelassen und durch Lautsprecher konnte man alles mithören, was im Nachbarraum gesagt und getan wurde.
»Einverstanden, aber dann sollten wir jetzt die Fragen gemeinsam vorbereiten. Ihre Aussage muss absolut vollständig und ausführlich sein, sonst wird sie nicht ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen.«
Der Nachmittag verging wie im Fluge. Vincenzo Marino und Sandra Leoni stritten, diskutierten, bissen sich bei jeder Frage fest, doch schließlich schien ihre Liste der zu klärenden Punkte vollständig zu sein. Ispettrice Leoni verließ schließlich zufrieden, ihre Akte an die Brust gepresst, den Raum.
»Bis morgen, Vince. Und …«
»Ja?«
»Entschuldige bitte für vorhin. Ich wollte dich nicht beleidigen.«
» Vabbuo’ , naja, ich muss mich wohl damit abfinden, dass mich keine haben will.«
»Red doch keinen Quatsch. Vince. Du bist ein ganz gut aussehender Typ, bestimmt nicht hässlich. Und wenn du willst, kannst du auch nett sein. Es ist nur so …« Wieder einmal wirkte Sandra Leoni verwirrt und unentschlossen.
»Komm, reden wir jetzt nicht mehr davon, okay? Vielleicht ein anderes Mal.« Marino klang trocken, ohne die übliche Ironie, die in seinen Worten sonst immer mitschwang. Ein Zeichen, dass er ernsthaft gekränkt war.
Leoni biss sich auf die Lippe und schwieg. Pech für ihn.
KAPITEL 70
Dienstag, 6. März, 20:00 Uhr
Nicht Angst war die Ursache für Leonardos Krämpfe, sondern eine Magen-Darm-Grippe, die ihn einige Tage lang mit Bauchschmerzen und hohem Fieber ans Haus fesselte. Maestro Lucio Lovati hatte ihn mit dem Keyboard bei den Chorproben am Donnerstag ersetzt, die von düsteren Vorahnungen über die Zukunft des Gemeindezentrums und des Chores geprägt waren. Doch obwohl Leonardos Gesicht leichenblass war und er mitgenommen aussah, beschloss er an jenem Dienstag, dass es endlich Zeit war, seine Wohnung zu verlassen. Nach einer ganzen Woche ohne Spielpraxis waren seine Finger gefährlich aus der Übung. Deshalb erschien Leonardo schon zwei Stunden vor der Probe in der Kirche, damit er genug Zeit hatte, sie ein wenig geschmeidiger zu machen.
Mit fiebrig glänzenden Augen und in eine gefütterte dicke Jacke eingemummelt, obwohl es inzwischen wärmer geworden war, steuerte er direkt die Chorempore der Kirche an. Er flog beinahe die Stufen hinauf, und als er oben angekommen war, stellte er das Heizöfchen an und legte sich auf dem Notenständer die Hefte mit den Fingerübungen bereit. Oben war es noch sehr kalt. Während er darauf wartete, dass sich die Luft etwas erwärmte, sah er hinunter, und sein Blick fiel auf Don Marios Beichtstuhl.
Leonardo stiegen die Tränen in die Augen.
In den Tagen, die er zwischen Schlafzimmer und Toilette verbracht hatte, hatte er sich nicht mehr um den Pfarrer gekümmert. Er wusste nicht, was mit ihm geschehen war. Saß er noch in Untersuchungshaft? Leonardo las keine Zeitung, und durch das Fieber und die Übelkeit war ihm sogar die Lust auf Fernsehen vergangen, wo Don Mario nach dem Aufsehen, das die Nachricht von der Selbstanzeige und seiner folgenden Verhaftung hervorgerufen hatte, seither nicht mehr in den Nachrichten erwähnt wurde.
Untersuchungsgeheimnis, hieß es.
Aus Respekt den Opfern gegenüber.
Und wer hatte sich um den alten Mann gekümmert?
Leonardo hatte ein schlechtes Gewissen und nicht einmal der Gedanke, dass er trotz seines Fiebers gut für Tea und Meo gesorgt hatte, vermittelte ihm ein besseres Gefühl.
Er musste wieder an seine letzte Begegnung mit Don Mario denken, an den Abend, als der ihm seinen Schal zurückgegeben hatte.
Bei der Erinnerung daran bekam er gleich wieder heftige Krämpfe.
Der Schal!
Der hing bei ihm zu Hause auf dem Garderobenständer. Er musste etwas tun. Zum Beispiel zur Polizei gehen und erzählen, dass er ihn Ivan geliehen hatte
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