Denn dein ist die Schuld
Tag.«
»Auf Wiedersehen, Don Mario. Ach …«
»Ja?«
»Gibt es was Neues über den Jungen, der verschwunden ist? Über Ivan?«
»Nein, Lucia, man weiß gar nichts.«
»Hoffen wir, dass sie ihn und seine Schwester finden, Pater. Wissen Sie, gestern sagte …«
»Ja, hoffen wir es. Auf Wiedersehen, Lucia.«
Luciano Dinuccio, sechzehn Jahre alt, zwei kurze Aufenthalte im Jugendgefängnis Beccaria, einer wegen Dealens, der andere, weil er beinahe seine Schule abgefackelt hätte. Wenn er nicht gerade mit Gras, Pakistaner oder Pillen dealte, bestand seine Lieblingsbeschäftigung darin, von jüngeren Kindern Geld zu erpressen und sie zu terrorisieren.
Lucianone war das, was in Zeitungen gern als »Babyboss« bezeichnet wurde. Ein arroganter Schläger, der auf alles eindrosch, was sich bewegte.
Nur einer konnte mit ihm reden, ohne dass ihm gleich die Autoreifen aufgeschlitzt wurden: Don Andrea, der junge Pfarrer, der so gut wie seine gesamte Freizeit den Jugendlichen widmete. Don Mario entdeckte ihn in der Turnhalle mit den Jungs von der Basketballmannschaft.
»Hast du eine Minute für mich, Andrea?«
»Natürlich, Don Mario.«
Der Pfarrer hatte diesen langen dünnen Geistlichen getauft, auf dessen Gesicht die deutlichen Spuren einer heftigen Jugendakne zurückgeblieben waren, er hatte ihm die Kommunion erteilt, ihn gefirmt und ihm oft genug in den Hintern getreten. Wie sollte er ihn da siezen?
»Weißt du vielleicht, wo ich diesen Luciano finden kann?«
»Den Dinuccio?«
»Ja, den mit dem ganzen Metallzeug im Gesicht.«
»Das sind Piercings, Don Mario.«
»Was auch immer das ist, sie sind hässlicher als Eiterpickel.«
»Natürlich sind die nicht schön, aber was wollen Sie machen, Don? Solange die Jungs nur sich selbst ihr Gesicht verunzieren … Ich kann mich ja ein bisschen umhören. Um diese Zeit ist er normalerweise zu Hause und schläft, wenn er nicht in der Werkstatt seines Bruders arbeitet. Macht ja sonst die Nacht zum Tag, der Dinuccio. Warum wollen Sie ihn sehen? Hat er etwas angestellt?«
»Nein, gar nichts. Ich muss nur mit ihm reden. Aber es ist ziemlich dringend. Deshalb gib Bescheid, wenn du ihn triffst oder weißt, wo ich ihn finden kann. Ein kurzer Anruf auf dem Handy genügt.«
»Sicher, darauf können Sie sich verlassen. Haben Sie etwas von Ivan gehört?«
»Nein. Bis jetzt noch nichts.«
»Das ist wirklich ein Rätsel.«
»Übrigens, Andrea, da du doch immer mit den Jungen zusammen bist …«
»Ja, Don Mario? Möchten Sie wissen, ob ich etwas gehört habe? Also, ich weiß nur, dass der Junge allen am Herzen lag, mich eingeschlossen. Ab und zu hat jemand von den Katecheten mit mir über ihn gesprochen. Erst vor einer Woche hat mir Maria, die vom Thekendienst, gesagt: ›Don Andrea, jemand muss etwas für diesen Jungen tun. Er läuft herum wie ein Zigeunerkind. Bei dieser Kälte trägt er nur eine dünne Stoffjacke. Und er wirkt ständig ausgehungert. ‹ Das waren ihre Worte. Und wissen Sie, Don Mario, was ich ihr geantwortet habe? Sie hätte Recht, aber da könne man nichts tun, weil sich sonst das Jugendamt einschalten und ihn in ein Heim einweisen würde. Und Ivan fürchtete sich vor dem Jugendamt. Und ehrlich gesagt hatte ich Angst, dass wir ihn so verlieren würden. Unseren Solisten …«
Don Andrea machte eine kurze Pause, um Luft zu holen, und als er danach wieder weitersprach, wirkte er beunruhigt. Einen Augenblick lang sah Don Mario in ihm wieder diesen dünnen, langen Jungen von damals, der Basketball spielte und sich dann selbst vor den Kopf schlug, wenn er wegen zu vieler Fouls vom Platz gestellt wurde. Im Moment sah er mindestens genauso verzweifelt aus.
»Nach all dem, was geschehen ist, bin ich überzeugt, ich hätte doch etwas tun müssen«, fuhr Don Andrea fort. »Selbst wenn wir ihn dabei verloren hätten. Denn Ivan und Martina waren zu sehr sich selbst überlassen, und wenn jemand Hunger hat und friert, hört er auf den Erstbesten, der ihm ein Lächeln schenkt.«
Don Andrea konnte gar nicht ahnen, wie nahe er damit der Wahrheit kam.
KAPITEL 32
Freitag, 9. Februar, 19:00 Uhr
Die Meldung über Ivan und Martina Della Setas Verschwinden erschien in den Nachrichtensendungen etwa drei Tage nachdem die Mutter es bei den Carabinieri angezeigt hatte. Danach meldete sich auch die Polizeistelle für Verbrechen an Kindern mit einer kurzen Stellungnahme und meinte: »Es werden Ermittlungen über den Verbleib von zwei Kindern angestellt, die sich am späten
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