Denn nie bist du allein - Crombie, D: Denn nie bist du allein - In a Dark House
wie die Situation sich entwickeln würde.
»Sie wissen verdammt genau, was passiert ist«, stieß der Mann, den sie Tony genannt hatte, beinahe schluchzend hervor. »Sie ist weg, und Harriet auch. Ich will wissen, was Sie mit ihr gemacht haben.«
»Laura ist weg?« Kath Warren sah Kincaid verblüfft an. »Tony, ich habe sie nicht gesehen. Ich weiß von nichts.«
Jetzt trat Kincaid vor und sagte mit ruhiger Stimme: »Hören Sie, lassen Sie doch erst mal Mrs. Warren los, und dann können wir über die Sache reden.«
»Ich will nicht darüber reden. Ich will wissen, wo meine Tochter ist«, fuhr der Mann ihn an, doch immerhin schien er zum ersten Mal Kincaids Anwesenheit zu registrieren. Nach einer Weile ließ er die Hände sinken und trat einen Schritt zurück.
Jetzt konnte Kincaid den Mann erstmals in Ruhe betrachten. Er war groß und dünn, mit einem langen Gesicht und diesem gewissen düster-umwölkten Blick, den, so vermutete Kincaid, manche Frauen unter günstigeren Umständen wohl attraktiv finden würden. Im Augenblick jedoch wirkte er erschöpft, und sein wohlgeformter Mund war verzerrt, weil er mühsam gegen die Tränen ankämpfen musste.
»Das ist Tony Novak«, erklärte Kath Warren – ein tapferer Versuch, so etwas wie Normalität herzustellen. »Seine Frau ist Mitglied unseres Verwaltungsrats. Harriet ist die Tochter der beiden. Mr. Novak ist Arzt am Guy’s Hospital. Er ist schon des Öfteren eingesprungen, wenn eine unserer Bewohnerinnen Hilfe brauchte …«
»Ich hätte nie einen Finger krumm gemacht, wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß. Laura hat es mir nämlich gesagt. Und sie hat mir gedroht. Sie wusste, dass Sie ihr helfen würden.«
»Helfen – wobei denn, Mr. Novak?«, kam Kincaid Kath Warren zuvor.
»Zu verschwinden. Mit meiner Tochter unterzutauchen. Das machen die hier nämlich. Sie helfen Frauen unterzutauchen. Aber das lasse ich mir nicht gefallen.« Er wandte sich wieder zu Kath Warren um, und sein hysterisches Gebaren bekam einen drohenden Unterton. »Sie werden mir meine Tochter wiederbringen.«
»Tony, ich hab’s Ihnen doch schon gesagt, ich habe sie nicht
gesehen. Weder Ihre Frau noch Ihre Tochter. Das ist Superintendent Kincaid von Scotland Yard. Sie sollten ihm besser erzählen …«
Das Klingeln von Kincaids Handy ließ sie alle erstarren. Er zog es aus der Gürteltasche, warf einen kurzen Blick auf den Namen, den das Display anzeigte, und drückte die Verbindungstaste. »Gemma«, sagte er hastig, »ich ruf dich gleich zurück – He!«
In dem kurzen Moment, als Kincaid abgelenkt gewesen war, war Tony Novak auf die Straße hinausgestürzt und verschwunden.
9
… ein Halbwissen von allem, und ein wirkliches Wissen von nichts.
Charles Dickens, Londoner Skizzen
Kincaid rannte bis zum einen Ende der kurzen Straße, dann zurück zum anderen, doch von Tony Novak war weit und breit nichts mehr zu sehen. Als er zum Frauenhaus zurücklief, sah er Kath Warren draußen auf dem Gehsteig stehen und besorgt nach ihm Ausschau halten. »Haben Sie ihn gesehen?«, fragte sie.
Kincaid schüttelte nur den Kopf; er musste erst wieder zu Atem kommen, und er beschloss, es wieder einmal mit Jogging zu versuchen. Einmal pro Woche mit den Jungs Fußball zu spielen hielt ihn offensichtlich nicht so fit, wie er geglaubt hatte. Das Wetter machte es ihm aber auch nicht leicht – im Westen türmte sich eine dunkle Wolkenwand auf, und die immer noch verbrannt riechende Luft fühlte sich zäh wie Sirup an, wenn er sie in seine Lungen sog. »Nein, spurlos verschwunden«, sagte er, als er wieder sprechen konnte. »Wer zum Teufel ist dieser Kerl eigentlich? Hat er vollkommen den Verstand verloren?«
»Nein. Zumindest glaube ich das nicht«, schränkte Kath Warren stirnrunzelnd ein. »Ich habe ihn jedenfalls noch nie so erlebt. Er arbeitet tatsächlich im Guy’s, in der Ambulanz, und seine Frau – seine Exfrau, genauer gesagt – gehört unserem Verwaltungsrat an. Laura Novak hilft öfter bei uns im Büro
aus, wenn sie Zeit hat, aber ich habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen.«
»Glauben Sie, dass an seiner Entführungsgeschichte etwas dran ist?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Laura so etwas tun würde. Aber andererseits …« Kath Warren zögerte. »Man kann nie wirklich wissen, was in einem Menschen vorgeht, nicht wahr? Ich hatte den Eindruck, dass es eine schwierige Scheidung war, aber soviel ich weiß, hatten sie das gemeinsame Sorgerecht, und das schien
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