Denn vergeben wird dir nie
Schultern; seine Hände glitten abwärts, tasteten
unter meinem Pullover.
»Und die süße kleine Andrea. Mit eigenen Augen habe
ich gesehen, wie dieser Schwachkopf mit dem Wagen
heber in der Hand in die Garage gegangen ist …«
Ein Kellner zerrte von der einen Seite an ihm, Leo und
Billy von der anderen. Ich versuchte verzweifelt, sein
Gesicht wegzuschieben, aber es gelang mir nicht. Er
küsste meine Augen. Und dann presste er seinen feuchten,
nach Bier riechenden Mund auf meine Lippen. Durch
meinen verzweifelten Kampf geriet der Stuhl ins Wanken.
Ich hatte wahnsinnige Angst, dass ich mit dem Kopf auf
den Boden aufschlagen und er mich unter sich begraben
würde.
Aber jetzt waren Männer von den umliegenden Tischen
herbeigeeilt, und starke Hände fingen den Stuhl auf, bevor
er zu Boden ging.
Dann wurde Nebels mit Gewalt weggezogen und der
Stuhl wieder aufgerichtet. Ich verbarg mein Gesicht in den
Händen. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden
zitterte ich so heftig, dass ich nicht imstande war, auf die
besorgten Fragen zu antworten, die von allen Seiten an
mich gerichtet wurden. Haarklammern hatten sich gelöst,
und ein Teil meiner Haare fiel mir offen über die
Schultern. Ich spürte, wie Joan sanft darüber strich, und
wünschte, sie möge aufhören – ich konnte im Moment
keinerlei Zärtlichkeit ertragen. Vielleicht bemerkte sie es,
denn sie zog ihre Hand wieder zurück.
Ich hörte, wie der Chef des Lokals Entschuldigungen
stammelte. Das nützt mir jetzt auch nicht mehr viel, dachte
ich. Du hättest schon lange aufhören müssen, diesem
Säufer noch weiter Alkohol auszuschenken.
Dieser kurze, wütende Gedanke genügte, um mich
wieder zur Besinnung zu bringen. Ich hob den Kopf und
begann, mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Dann
blickte ich in die besorgten Gesichter rings um den Tisch
und zuckte die Achseln. »Alles in Ordnung«, sagte ich.
Als ich Joan anblickte, war mir völlig klar, was sie
dachte. Sie hätte es genauso gut in alle Richtungen
ausposaunen können.
»Ellie, begreifst du jetzt, was ich dir über Will Nebels
erzählt habe? Er hat zugegeben, in jener Nacht in
Mrs. Westerfields Haus gewesen zu sein. Wahrscheinlich
war er betrunken. Was glaubst du, hätte er getan, wenn er
mitbekommen hätte, wie Andrea allein in die Garage
ging?«
Eine halbe Stunde später, nach einer frischen Tasse
Kaffee, bestand ich darauf, allein nach Hause zu fahren.
Unterwegs fragte ich mich dann allerdings, ob das nicht
wieder leichtsinnig von mir gewesen war. Diesmal war ich
sicher, dass man mir folgte, und ich wollte auf keinen Fall
noch einmal allein auf dem Parkplatz aus dem Wagen
steigen müssen. Daher bog ich, beim Gasthaus
angekommen, nicht ab, sondern fuhr weiter und rief die
Polizei von meinem Handy aus an.
»Wir schicken einen Streifenwagen«, sagte der Dienst
habende Beamte. »Wo sind Sie genau?«
Ich sagte es ihm.
»Gut. Fahren Sie zurück und biegen Sie in die Einfahrt
vom Gasthaus. Wir werden direkt hinter dem Wagen sein,
der Sie verfolgt. Steigen Sie unter keinen Umständen aus
dem Auto, bevor wir nicht bei Ihnen sind.«
Ich fuhr langsamer, und der Wagen hinter mir
verlangsamte ebenfalls seine Fahrt. Jetzt, wo ich wusste,
dass bald ein Streifenwagen auftauchen würde, war ich
froh, dass mein Verfolger immer noch da war. Ich wollte,
dass die Polizei herausfand, wer in dem Auto saß und
warum er mir gefolgt war.
Ich näherte mich wieder dem Gasthaus. Ich bog in die
Einfahrt, aber das Auto hinter mir fuhr weiter. Kurze Zeit
später sah ich das Blaulicht und hörte die Polizeisirene
aufheulen.
Ich fuhr rechts heran und brachte den Wagen zum
Stehen. Zwei Minuten später sah ich den Streifenwagen,
jetzt ohne Blaulicht, hinter mir in die Einfahrt biegen. Ein
Beamter stieg aus und trat an die Fahrertür meines
Wagens. Als ich das Fenster hinuntergleiten ließ, sah ich,
dass er grinste.
»Man ist Ihnen tatsächlich gefolgt, Miss Cavanaugh. Der
Bursche sagt, er sei Ihr Bruder und er wollte bloß sicher
sein, dass Sie unbehelligt nach Hause kommen.«
»Das ist doch … Er soll mich in Ruhe lassen und nach
Hause fahren!«, sagte ich. Aber dann fügte ich doch hinzu:
»Aber richten Sie ihm trotzdem ein Dankeschön von mir
aus, bitte.«
36
ICH HATTE VOR, Marcus Longo am Sonntagmorgen
anzurufen, aber er kam mir zuvor. Als das Telefon um
neun Uhr klingelte, saß ich an meinem Computer, mit
meiner zweiten Tasse Kaffee neben mir auf dem
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