Der 13. Engel
ging. Gleich darauf folgte eine entsetzliche Stille. »Nein«, flüsterte Amy. Eine eiskalte Hand legte sich um ihr Herz. »Neiiiiin! « Sie stürzte nach draußen, auf das Schlimmste gefasst.
Mit einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung sah sie, dass Finn noch lebte. Aber etwas stimmte nicht. Er war bleich wie ein Gespenst und schwankte bedrohlich. Vorübergehende Passanten deuteten tuschelnd auf ihn. Amy eilte an seine Seite. »Was ist …« Sie verstummte und starrte auf Finns linken Arm. Kraftlos hing er an seiner Seite herab. Etwas, das wie rote Tränen aussah, tropfte von seinen Fingerspitzen auf die Straße, während sich auf dem Hemdsärmel ein immer größer werdender, purpurner Fleck ausbreitete. Amy schlug die Hand vor den Mund.
»Das … das darf nicht sein«, keuchte jemand.
Erst jetzt bemerkte Amy Mr Greymore und Mr Black, die Finn mit dem gleichen ungläubigen Entsetzen in den Augen anstarrten, das auch sie selber verspürte. In seiner Hand hielt Mr Black das Messer, mit dem er sie bereits mehrmals bedroht hatte. Die Schneide war rot von Blut, das träge daran herabrann. Amy verspürte einen grenzenlosen Zorn. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Das würde er bereuen! Sie wollte bereits auf Mr Black losgehen, als ihr der sonderbare Ausdruck in seinen Augen auffiel: Angst, vermischt mit Verzweiflung. Im nächsten Moment entglitt ihm das Messer und schlug mit einem hellen Pling zu seinen Füßen auf. Mr Black heulte auf, wie unter starken Schmerzen, und drückte die Hände an die Schläfen. Mit einem Mal flossen feurige Tränen aus seinen Augen und tropften hinab auf seinen Anzug, wo sie sich wie Säure durch den Stoff fraßen.
Mr Greymore stand einfach nur da. Starr wie eine Statue. Alleine seine Augen bewegten sich noch, huschten von Mr Black zu Finn und wieder zurück zu Mr Black. Dabei waren sie so weit aufgerissen, dass er aussah, als stände er kurz davor, den Verstand zu verlieren.
Finns Stöhnen riss Amy aus ihrer Erstarrung. Sie eilte an seine Seite, hob die Mäntel auf, die zu Boden gefallen waren, und hakte sich an seinem gesunden Arm unter. Sanft zog sie ihn mit sich fort. »Was ist passiert?«, fragte sie, sobald sie sich ein paar Schritte entfernt hatten.
Finn wandte ihr das bleiche Gesicht zu. »Er … er stand … direkt … direkt vor der Tür«, stammelte er verwirrt. »Ich hab … hab ihn nicht gesehen und … und …«
»… bist direkt in sein Messer hineingelaufen?!«
Er nickte.
»Tut es sehr weh?«
Finn schüttelte erst den Kopf, dann nickte er.
Amy schaute kurz zurück. Niemand kam ihnen nach. »Gehen wir hier entlang.« Sie bogen in ein abschüssiges Gässchen ab und stoppten. Vorsichtig legte sie Finn den Mantel über die Schultern, um ihn vor der Kälte zu schützen, bevor sie in ihren eigenen schlüpfte. Dann eilten sie weiter. Am Ende der Gasse stießen sie auf eine Querstraße. Amy zögerte.
»Nach links«, stöhnte Finn.
»Wie machst du das?«, fragte Amy und schleifte ihn weiter. »Gibt es eine Straße in dieser Stadt, die du nicht kennst?«
Er zuckte die Schultern und schrie auf.
»Dummkopf«, schalt Amy ihn und warf einen besorgten Blick auf den Blutfleck auf seinem Ärmel, der sich immer noch weiter ausbreitete. Ich muss etwas dagegen tun, dachte sie und sah sich nach einer Gelegenheit zum Ausruhen um. Sie wählte einen Hauseingang auf der anderen Straßenseite, der von Säulen flankiert wurde und damit wenigstens ein bisschen Sichtschutz bot.
»Setz dich auf die Stufen«, befahl sie.
»Wozu?«
»Setzen«, fuhr sie ihn an.
Dieses Mal gehorchte Finn sofort.
Amy musterte ihn. Er war ganz grau im Gesicht. Sie musste unbedingt dafür sorgen, dass er nicht noch mehr Blut verlor. »Wir können jetzt keine Pause machen«, quengelte Finn und wollte sich wieder hochkämpfen. »Sitzen bleiben«, fauchte Amy und begann ihren Turban abzuwickeln. »Ich muss erst mal deine Wunde verbinden.«
Finn schüttelte den Kopf. »Dazu ist noch genug Zeit, wenn wir in unserem Versteck sind.«
»Was bist du doch für ein Dickkopf«, schimpfte Amy. »Bis dahin bist du längst so schwach, dass ich dich tragen müsste. Was nicht geht, da ich nicht stark genug bin. Also müsste ich dich irgendwo in der Gosse zurücklassen, wo du langsam verblutest. Ist es das, was du willst?«
Er schluckte. »Das würdest du nicht wirklich tun, oder?«
»Wenn du es nicht herausfinden willst, sei endlich still und tu, was ich dir sage.« Sie kniete sich neben ihn auf die Treppe und
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