Der 21. Juli
Morgen um drei Uhr dreißig über Minsk auftauchen, der Ablenkungsangriff auf Wilna war für drei Uhr geplant und sollte in mehreren Wellen erfolgen. Es war die erste offensive Großaktion der Luftwaffe seit langem, Zacher hatte gesehen, mit welchem Eifer die Piloten sich und ihre Maschinen auf den Einsatz vorbereiteten. Es ging um alles, das lag in der Luft. Sie hatten vor dem Start gerätselt, was in dem unförmigen Koloss stecken mochte, den die aufgerüstete He 111 hinter sich herschleppen würde.
Luftmarschall Milch selbst hatte Zacher und seine Mannschaft eingewiesen. Er befahl ihnen, auf direktem Weg Minsk anzusteuern, Flughöhe sechstausend Meter. Kurz bevor sie Minsk erreichten, sollten sie auf dreitausend Meter sinken. Wenn sie über dem Stadtrand waren, mussten sie die Bombe ausklinken, sie hätte dann genug Fahrt, um sechshundert Meter über der Stadtmitte zu detonieren. Je nach Luftströmungen und Winden konnte die Bombe einige hundert bis höchstens zweitausend Meter von ihrem Ziel wegdriften. »Das spielt keine große Rolle«, sagte Milch gelassen. »Offen gesagt, es ist fast egal, wo das Ding hochgeht, Hauptsache, sie zündet. Sie, Major von Zacher, ja, schauen Sie nicht so erstaunt, ich habe Sie befördert, also Sie, Herr Major, werden die Heinkel hochziehen, sobald sie die Bombe losgeworden sind. Fliegen Sie einen Bogen um Minsk. Es wird eine heftige Explosion geben. Wir wissen nicht, wie hoch die Wirkung reicht. Sicher ist sicher. Dann sehen Sie zu, dass Sie Ihre Besatzung und Ihren Vogel heil nach Hause kriegen.«
»Darf ich meine Frage noch einmal stellen?«
»Welche, Herr von Zacher?«
»Was für eine Bombe es ist.«
»Das Ding nennt sich Uranbombe. Selbst wenn ich Ihnen erklären wollte, was das ist, ich könnte es nicht. Es geht um Kettenreaktionen, um die Energie der Materie. Wir spielen ein bisschen lieber Gott. Heinrich Himmler, unser verehrter Reichsführer-SS« - Milch grinste hämisch, jeder wusste, er verachtete Himmler mitsamt seinem schwarzen Germanenhaufen -, »ist überzeugt, dass diese Waffe den Sieg bringen wird. Da allen anderen nichts Besseres eingefallen ist, tun wir also dem Reichsheini den Gefallen und werfen die Bombe den Russen auf die Füße. Offen gesagt, ich bin nicht der Einzige, der zweifelt, ob das klappt. Genauso offen gesagt, ich fände es zum Kotzen, wir verlören den Krieg. Manchmal träume ich nachts vom Triumphgeheul der Sieger, und mir ist noch nach dem Aufwachen schlecht. Vielleicht schleppen Sie einen Riesenhokuspokus nach Minsk, und die Russen lachen sich halb tot. Aber ich will mir nicht nachsagen lassen, wir hätten nicht alles versucht. Wenn das Unternehmen Götterdämmerung hinhaut, sind Sie ein Volksheld, und für uns andere fällt auch ein bisschen Ruhm ab. Wenn es schief geht, dann können wir schon mal unsere Betttücher aus den Fenstern hängen. Und den Reichsheini erwartet ein böses Ende. Unverdient wäre es nicht.«
Zacher wunderte sich, Milch war jovial und offen. Es ging dem Ende entgegen, so oder so. Da lockerten sich alte Ordnungen. Milch konnte sich seinen Dienstrang aufs Klo hängen, wenn Deutschland den Krieg verlor. Falls er nicht die Rache der Sieger zu spüren bekam für die Bombardierung Rotterdams, Coventrys oder Londons.
Nach zweieinviertel Stunden Flug meldete der Navigationsoffizier, Oberleutnant Seiden, mit leicht erregter Stimme: »Major von Zacher, in knapp zwanzig Minuten erreichen wir den Stadtrand von Minsk.«
Zacher nahm Gas weg und begann den Sinkflug. Auf dreitausend Metern legte er die Maschine wieder in die Waagerechte. Sie brummte wie am Schnürchen. Sie hatten Glück, jedenfalls bisher, kein Sowjetflieger zu sehen. Die Heinkel war umkreist von den Focke-Wulfs, deren Besatzungen sich nach der Landung irgendwo auf dem freien Feld zu Fuß zurück in die Heimat durchschlagen wollten. Vielleicht würde der Sprit bis Grodno reichen.
»Noch fünf Minuten bis zum Ausklinken«, meldete Seiden.
Unten flackerten helle Punkte auf. Die Flak feuerte. Sie waren entdeckt worden. Scheinwerfer suchten hektisch den Himmel ab. Ein Lichtstrahl blendete Zacher. Ein Begleitjäger zog plötzlich eine helle Rauchfahne hinter sich her. Flammen schlugen aus dem Cockpit. Die Focke-Wulf drehte eine Pirouette nach unten, dann verschwand sie aus Zachers Blickfeld. Druckwellen der Flakgeschosse schüttelten die Heinkel. Zacher hielt stur Kurs und Höhe.
»Noch zwei Minuten«, sagte Seiden.
Ein Schlag. Zacher spürte ihn am Steuerknüppel.
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