Der 21. Juli
Achseln. »Das wäre nahe liegend, aber vielleicht nicht klug. Wenn der Reichsführer Hitler nachfolgt, werden wir keinen Frieden bekommen. Keiner unterschreibt einen Vertrag mit dem Reichsführer.«
»Sie sind mir ein treuer SS-Mann«, sagte Schellenberg.
Werdin staunte. Schellenberg saß gelassen hinter seinem Schreibtisch, als wäre nichts geschehen und als könnte er nicht jeden Augenblick verhaftet oder erschossen werden. Fast schien es, als freute sich Schellenberg über Hitlers Tod. Schellenberg wippte auf seinem Stuhl, ein Schmunzeln zog über sein Gesicht, dann schaute er Werdin energisch an. »Die Herren Verschwörer werden sich wundern. Sie werden auf Knien angekrochen kommen und uns um unsere Hilfe bitten, wenn die Ostfront den Braten gerochen hat. So wird es kommen. Und wir werden sie regieren lassen. Nur Innenminister wird nicht der Herr Leber, sondern bleibt Heinrich Himmler. Und wir sind seine Polizei und sein Geheimdienst. Wer soll das Reich zusammenhalten, wenn nicht wir? Die zerstrittene Wehrmacht etwa? Die Herren Marschälle werden noch in zehn Jahren herumschwätzen, über ihren Eid und die Treue und so weiter und so fort. Es ist doch kein Zufall, dass ein kleiner Oberst den Staatsstreich fast im Alleingang macht. Sie werden kommen, auf Knien, Werdin, glauben Sie es mir, wir müssen nur warten und bereit sein. Na ja, ein bisschen nachhelfen müssen wir vielleicht auch.«
Obwohl er ihn ansprach, glaubte Werdin, Schellenberg rede mit sich selbst. Sie waren ja nicht überrascht, sie wussten von der Verschwörung, selbst Himmler war eingeweiht. Die Emissäre der Putschisten hatten ihm eine große Rolle nach dem Putsch versprochen, und Himmler wäre nicht Himmler gewesen, hätte er das vergessen.
Das Telefon klingelte. Schellenberg nahm ab, sein Gesicht wurde schlagartig ernst. »Jawohl, Reichsführer, wir erwarten jeden Moment, dass sie losschlagen.« Konzentriert hörte Schellenberg zu. Er nahm sich einen Bleistift und schrieb etwas auf einen Block. »Jawohl, Reichsführer, grüßen Sie bitte den Kameraden Wolff.« Schellenberg legte auf.
Zu Werdin gewandt, sagte er: »Wir müssen die Rundfunksender lahm legen. Verhindern, dass irgendeiner hochtrabende Erklärungen abgibt. Sonst endet alles im Chaos. Der Reichsführer hat befohlen, dass Hitler durch eine englische Fliegerbombe getötet wurde. Auf keinen Fall darf von einem Staatsstreich geredet werden.«
Er griff wieder zum Telefonhörer: »Verbinden Sie mich mit Gruppenführer Müller.« Eine Pause. »Heil Hitler, Gruppenführer. Sie wissen es wohl schon, der Führer ist tot, englische Fliegerbombe. Der Reichsführer hat mich gerade angerufen. Wir tun nichts, wir lassen die Sache rollen. Selbstverteidigung, sonst nichts. Keine Schießereien. Wir sitzen am längeren Hebel. Wenn die Herren von der Wehrmacht mal begriffen haben, was wirklich passiert ist, wird es eng für Stauffenberg und Kameraden. Die Zeit arbeitet für uns. Wir müssen heute nur eines tun, die Rundfunksender abschalten. Kein Wort von einem Putsch darf über den Äther, sonst kriegen wir einen Bürgerkrieg.« Schellenberg hörte eine Weile zu, dann sagte er: »Auf Wiederhören, Gruppenführer. Gut, Sie übernehmen das.«
Schellenberg wandte sich an Werdin. »Wir brauchen da keine Truppen hinzuschicken. Wir haben genug Leute beim Reichsrundfunk. Die kappen ein paar Kabel, und es ist Ruhe im Puff. Und dann wollen wir doch mal sehen, was passiert. Da kann der Herr Goerdeler reden, so viel er will, es hört ihn keiner. Aber daran dürfte er sich mittlerweile ja gewöhnt haben.
Und damit überhaupt nichts schief geht, hat der Reichsführer die Leibstandarte und andere Einheiten der WaffenSS ausrücken lassen. Sie marschieren in Richtung Stadtmitte.«
Zurück in seinem Dienstzimmer, überfiel Werdin die Ratlosigkeit. Die Dinge liefen jetzt ab, so oder so, er konnte nichts ändern. Er hatte seine Rolle gespielt, auch wenn er sich zeitlebens fragen würde, worin sie genau bestand. Er hatte keine Lust, sich von Wehrmachtsoldaten festsetzen zu lassen, möglicherweise gab es auch Kämpfe. In seinem Büroschrank hatte er Zivilkleidung hängen, und die zog er nun an. Er schloss sein Dienstzimmer ab und schlich sich davon. Niemand musste erfahren, wo er war.
In der Wilhelmstraße begegnete er Soldaten, angeführt von einem Major. Sie interessierten sich nicht für Werdin. Sie bewachten das Regierungsviertel. Werdin erreichte den U-Bahnhof Hallesches Tor und setzte sich in einen Zug, der
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