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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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verlassen
     hatte. Etwas sagte ihr, besser kein Licht anzuschalten. Sie wollte nicht die Überreste des Lebens sehen müssen, um das sie
     so gekämpft und das sie in solcher Hast verlassen hatte. Den Ort, an dem sie ihre besten und auch ihre schrecklichsten Momente
     verbracht hatte. Im fahlen Licht der Abenddämmerung, das durch die Rollläden hereinfiel, ging sie durch die Räume. Stille.
     Sie hätte gerne den Fernseher der Nachbarn im Ohr gehabt oder die Rufe der Kinder, die auf der Straße spielten, aber es war
     absolut nichts zu hören. Trotzdem senkte sie den Blick nicht. Traurig ging sie durch die Wohnung. Sie würden nie mehr hierher
     zurückkehren. Die Mädchen würden Angst haben, und auch sie würde sich hier nie wieder sicher fühlen. Aber wo sollten sie hingehen,
     wenn dieser Albtraum eines Tages endete?
    Während sie ins Schlafzimmer ging, gab sie sich Mühe, sich die guten Momente in Erinnerung zu rufen. Am Anfang waren sie ganz
     glücklich gewesen, bis ihr Mann Probleme mit dem Alkohol bekam und dazu überging, seinen Frust an ihr auszulassen. Ein paarmal
     hatte er in den letzten Jahren versucht, das Trinken aufzugeben. Er hatte sie für alles um Verzeihung gebeten, was er ihr
     angetan hatte, und sie hatte ihm geglaubt, weil sie ihn noch immer liebte, weil sie sah, dass die Mädchen glücklich waren,weil sie noch glaubte, ein Mensch könne sich ändern. Doch die Zeit hatte ihr gezeigt, wie sehr sie sich da täuschte. Irgendwann
     kam Vera an den Punkt, an dem sie hätte sterben wollen. Und der Tod kam, aber nur, um ihn mitzunehmen.
    Vera kramte in Ihrem Schrank. Nach einigem Suchen stieß sie auf eine rote, von Feuchtigkeit angegriffene Schachtel. Sie setzte
     sich aufs Bett und hob den Deckel. Zärtlich strich sie über den Stoff. Das war Claras erstes Kleidchen gewesen. Sie hatte
     es selbst genäht, und später hatte sie etwas darin eingewickelt.
    Seit dem Tod ihres Mannes hatte Vera die Schachtel nicht mehr anfassen wollen, doch jetzt war der Augenblick gekommen. Mit
     der traurigen Stoffhülle zwischen den Fingern stand sie auf. Sie musste weg hier. Sie hatte schon länger gebraucht als nötig.
     Aber die Erinnerungen bedrängten sie und brachten ihr Bilder von vor vielen Jahren zurück. Die Zimmertür. Dieselbe Schwelle,
     über die er sie auf Händen getragen hatte, einen Tag nach dem Kauf der Wohnung. Er hatte sie neben dem Bett abgesetzt und
     leidenschaftlich geküsst, denn damals war noch Liebe in ihm.
    Vera spürte seine Lippen, eine greifbare, stille Erinnerung, doch jetzt waren die Lippen kalt und trocken und schmeckten nach
     Metall. Sie schlug die Augen genau in dem Moment auf, als die Hände des Mannes sich um ihren Hals schlossen. Sie wollte schreien,
     doch der Druck seiner Finger ließ keinen Laut aus ihrer Kehle entweichen.
    »Hallo, Schatz. Ich dachte schon, du kommst nicht zurück.«
    Sein Atem roch faulig, wie an dem Morgen, als er sie in dem Motel fast getötet hätte. Aber jetzt war Cass weit weg und die
     Mädchen auch. Niemand würde ihr helfen. Sie versuchte, ihn ins Gesicht zu schlagen, aber die Kräfte verließen sie in dem Maß,
     in dem er ihr die Luft abdrückte.
    »Möchtest du nicht mitkommen, Schatz? Willst du nicht immer bei mir sein?«
    Sie versuchte, den weißen Stoff aufzurollen. Sie dachte an Clara und Ana. Die beiden würden auch ohne sie weiterleben, daswusste sie, aber sie konnte nicht gehen, ohne sich von ihnen verabschiedet zu haben. Sie wollte ein letztes Mal den lebhaften,
     tiefen Blick ihrer älteren Tochter und das glückliche, unschuldige Lächeln ihrer jüngeren sehen. Statt dessen sah sie vor
     sich die gelblichen, zerfallenen Zähne, die sich zu einem grausamen Grinsen bleckten. Sie würde sterben. Der weiße Stoff glitt
     zu Boden, und Vera umklammerte den darunter verborgenen Gegenstand. Bald würde alles vorüber sein. Ihr Zeigefinger suchte
     den Abzug und drückte ab. Für einen Sekundenbruchteil hatte sie die Gewissheit, ihre Chance vertan zu haben. Die Patronen
     lagen noch in der Schachtel. Die Pistole war nicht geladen. Dieser Fehler würde sie das Leben kosten. Doch dann hörte sie
     den Knall. Sofort spürte sie, wie der Druck auf ihrem Hals nachließ. Ihr Mann schrie auf. Ihre Lungen füllten sich mit Luft,
     und ohne die alte Pistole loszulassen, machte sie sich frei und rannte zur Wohnungstür. Sie drückte auf die Klinke, doch die
     Tür war abgesperrt. Als sie ein Schluchzen hörte, drehte sie sich um. Ihr Mann lag

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