Der 26. Stock
ausrichten?«
Isabel schüttelte den Kopf. Es würde zu nichts führen, wenn sie anfing, mit der Sekretärin zu diskutieren. Resoluten Schrittes
durchquerte sie das Vorzimmer und riss die Tür zu Señor Hernáns Büro auf.
»Halt!« Die Sekretärin sprang auf und lief ihr hinterher. Wahrscheinlich befürchtete sie, den Job, den sie eben erst angetreten
hatte, gleich wieder zu verlieren. »Señorita Alvarado!«
Rai Lara war gerade damit beschäftigt, eine Porzellanfigur in ein Regal zu stellen. Auf dem Boden standen zahlreiche Kartons,
teils geschlossen, teils offen, und Isabel sah darin bekannte Gegenstände: die Ausstattung von Rais bisherigen Büro.
»Señor Lara, sie hat … ich …«
Rai drehte sich nicht einmal zu seiner Sekretärin um.
»Lass uns allein.«
Isabel hörte, wie die Tür hinter ihr zugezogen wurde, während Rai irritiert den Kopf schüttelte.
»Nein, hier steht die Figur nicht gut. Die hat mein Sohn mir geschenkt, vor der Scheidung. Ich glaube, ich werde das Ding
im Karton lassen müssen.« Er wandte sich um. »Was willst du?«
Isabel spürte, wie sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Etwas ging hier vor, und sie wollte wissen, was. Es war nicht
nur, dass Señor Hernáns Sachen buchstäblich über Nacht verschwunden waren. Nein. Das hatte sie schon öfters erlebt. Wenn ein
Posten neu besetzt wurde, wozu viel Zeit mit einer langsamen Übergabe verschwenden? So sah man das hier. Aber da war noch
etwas Seltsames, und ein Teil von Isabels Hirn biss sich an der Frage fest, was es war.
»Rai, ich will wissen, was hier los ist! Gerade eben musste ich mich im Foyer mit zwei Wachmännern herumstreiten, die mich
nicht durchlassen wollten, weil mir ›niemand‹ eine I D-Card gegeben hat. Es geht hier zu wie auf einem Militärstützpunkt. Und jetzt stellt sich auch noch heraus, dass du in Señor Hernáns
Büro sitzt und Vera durch eine junge Frau ersetzt wurde, die nicht mal weiß, dass morgens um halb zehn ganz sicher kein wichtiger
Kunde bei uns auftaucht.«
Während Isabel redete, hatte Rai es sich hinter dem großen Schreibtisch bequem gemacht. Sein Gesicht zeigte eher freundliche
Herablassung als Überraschung oder Ärger. Offenbar hatte er Derartiges erwartet und war darauf vorbereitet.
»Bitte setz dich«, sagte er und deutete auf den Besucherstuhl. »Zunächst mal muss ich mich bei dir entschuldigen.«
Diese Reaktion überraschte sie. Völlig perplex nahm sie Platz. Rai zählte nicht zu den Menschen, die Fehler zugaben, er suchte
lieber einen anderen Schuldigen.
»Wie du dir schon gedacht haben wirst, war ich es, der dich gestern hätte informieren sollen. Aber ich hatte zu viel um dieOhren und habe schlicht und einfach vergessen, jemanden zu dir rüberzuschicken. Ich habe nicht damit gerechnet, dass die da
unten so ein Theater machen würden, um dir eine I D-Card auszustellen. Eben am Telefon haben sie mir aber versichert, dass jetzt alles geklärt sei.«
»Die haben behauptet, ich würde nicht auf der Liste stehen!«
»Ich weiß, und ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber jetzt ist ja alles geregelt.« Er nahm einen Kugelschreiber
aus einer Stiftdose und begann damit herumzuspielen. »Vera hat im Übrigen nicht gekündigt, aber sie ist derzeit nicht in der
Lage, ihrer Arbeit nachzugehen. Sie hat selbst darum gebeten, freigestellt zu werden, bis sie wieder auf dem Damm ist, und
die junge Frau, die du gerade kennengelernt hast, vertritt sie solange.«
»Und Hernán? Was ist mit ihm los?«
Rai legte den Kugelschreiber beiseite und fuhr sich langsam durchs Haar.
»Also, Isabel, über Hernán weiß ich nicht viel, und ich bin auch nicht befugt, Auskunft über ihn zu geben. Die Geschäftsführung
hat mich gebeten, diesen Posten zu übernehmen, und ich werde mein Bestes geben. Man hat mich ausdrücklich angewiesen, mich
aus der Sache mit Alberto herauszuhalten.«
Es war das erste Mal, dass Isabel jemanden auf dem Stockwerk außer Hugo den Vornamen Señor Hernáns gebrauchen hörte. Und was
sollte das überhaupt heißen, »die Sache mit Alberto«?
»Also gut, Raimi.« Isabel war so wütend, dass sie den Spitznamen verwendete, den ihr neuer Chef schon immer gehasst hatte.
»Und was wirst du den Mitarbeitern sagen?«
»Die brauchen nichts zu wissen.« Genau wie ich, dachte Isabel. »Man wird ihnen mitteilen, dass die Stellen neu besetzt sind,
und basta.«
»Eine Frage hätte ich aber noch, bevor ich gehe«, sagte
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