Der 26. Stock
Stocken, »Alberto und ich, wir waren … äh … Es ist sehr schwer für mich, dir das zu erzählen.«
Isabel fasste ihre Freundin bei der Hand und rückte ihren Stuhl näher zu ihr. Veras Atem roch nach Gin. Dabei hatte sie Alkohol
immer strikt abgelehnt, seit sie mit ihrem Mann wegen seiner Trinkerei durch die Hölle gegangen war.
»Also«, setzte Vera neu an, als sie sich gesammelt hatte, »Alberto und ich, wir waren zusammen, Isabel. Ich meine, manchmal.«
Tränen traten ihr in die Augen. Sie setzte hastig die Sonnenbrille wieder auf, als sie den Kellner mit dem Essen zurückkommen
hörte.
»Noch einen Drink, bitte«, sagte sie, bevor der Kellner entwischen konnte, und lächelte erneut. Er nickte, nahm das leere
Glas mit und ging. »Tut mir leid, Isabel, ich weiß, dass das nicht richtig war.«
Die Wimperntusche rann ihr jetzt die Wangen hinab. Isabel hielt ihr ein Taschentuch hin. Überrascht war sie nicht, aber ohne
Zweifel hatten die beiden ihre Beziehung mit großem Geschick geheim gehalten.
»Isabel …«, schluchzte Vera. »Seine Frau dachte, Alberto wäre noch im Büro, und … Ich glaube, sie hat so getan, als wüsste sie von nichts, um die Lage nicht noch schlimmer zu machen.«
»Und wie geht es ihm?«
»Er liegt im Krankenhaus. Die Firma hat sich darum gekümmert. Es war schrecklich. Alberto hatte getrunken, und … ein Lkw … o Gott …«
Sie brach wieder in Tränen aus. Isabel drückte Vera an sich und versuchte sie zu beruhigen. Der Kellner kam mit ihrem Drink
zurück und verzog sich schleunigst wieder.
»Beruhige dich, Vera«, bat Isabel, während sie ihr übers Haar strich. »Und erzähl mir mal alles der Reihe nach.«
Vera nickte, richtete sich auf und atmete tief durch, um die Fassung zurückzugewinnen. Isabel setzte sich wieder auf ihren
Stuhl und wartete ab, bis Vera so weit war und zu erzählen begann.
»Es war am späten Mittwochabend. Die Geschäftsführung hatte einige Veränderungen auf Abteilungsleiterebene angekündigt. Alberto
war bester Dinge. Er sagte, er könne mir das noch nicht genauer erklären, aber ihm stehe eine wichtige Beförderung bevor.
Weißt du, er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, es ganz nach oben zu schaffen, aber diesmal lag der Aufstieg zum Greifen
nahe. Jedenfalls schlug er vor, das in einem guten Restaurant zu feiern. Ich sagte, ach was, das sei doch nicht nötig, aber
er war so gut gelaunt und hatte keine Lust, nach Hause zu seiner Frau zu fahren. Sie haben sich schon lange auseinandergelebt,
Isabel. Na ja, wir haben also gefeiert, und er hat es mit dem Champagner ein bisschen übertrieben. Die Rechnung war auch entsprechend.
Er wollte dann noch tanzen gehen, aber ich habe ihm gesagt, dass ich die Mädchen nicht so lange alleine lassen will. Vor dem
Restaurant stand schon der Portier mit Albertos neuem Mercedes. Wir … also, wir sind nicht gleich losgefahren. Er war so glücklich, Isabel, ich hatte ihn schon sehr lange nicht mehr so erlebt.
Im Radio lief ein Lied von … so was Trauriges, Gott, ich habe es jetzt noch im Ohr.«
Sie stockte und trank noch einen Schluck. Bevor sie weitersprach, starrte sie auf die Tür zu ihrem Separee, als erwartete
sie noch jemanden.
»Auf der Fahrt haben wir geredet und gelacht, und da habe ich angefangen, ihm einen Witz zu erzählen. Du weißt ja, das ist
sonst nicht meine Art, aber ich hatte am Abend davor diesen Witz im Fernsehen gehört und wollte Alberto zum Lachen bringen.Er hat auch sehr lachen müssen und mich voller Freude angeschaut, und da fiel auf einmal ein grelles Licht auf sein Gesicht
und … Isabel …«
Die Sekretärin schlug die Hände vors Gesicht und begann wieder zu weinen. Isabel kam der Gedanke, dass sie wohl die erste
vertraute Person sein musste, der Vera das alles erzählte. Sie hatten beide nur wenige enge Freunde, und bestimmt hatte Vera
ihr Leid nicht bei ihren Töchtern abgeladen. Nach einer Weile hob Vera wieder den Blick, biss sich auf die Unterlippe und
sah zur Tür. Isabel dachte, dass das Sprechen sie merkwürdigerweise nicht zu beruhigen schien, eher wirkte sie nun noch nervöser.
Mit zittriger Hand nahm sie noch einen Schluck und fuhr fort:
»Angeblich war es ein Lkw. Ich bin erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Ich konnte der Polizei praktisch nichts sagen. Das
Letzte, woran ich mich erinnere, ist Albertos Gesicht. Das ist der Grund dafür, dass das Meeting abgesagt wurde, Isabel.
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