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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Anscheinend
     liegt er immer noch im Koma, auf der Intensivstation. Rai hat mir gesagt, die Ärzte glauben, dass er durchkommt.«
    »In welchem Krankenhaus liegt er denn?«, fragte Isabel. Auf dem Tisch wurde das Essen kalt, aber die beiden Frauen hatten
     sowieso keinen Appetit.
    »In der Saint-Louis-Klinik in Paris. Rai zufolge hat sich unsere Konzernleitung um alles gekümmert. Angeblich haben sie dort
     die besten Spezialisten. Alberto bekommt wirklich die beste Behandlung, Isabel. Heute Abend soll ich einen Anruf kriegen,
     wie es ihm geht. Gestern war seine Frau bei mir, ich habe ihr dieselbe Geschichte erzählen müssen wie den anderen. Niemand
     weiß das mit uns, außer dir jetzt. Deshalb ist es besser, wenn du keine weiteren Fragen in der Firma stellst. Ich möchte nicht,
     dass sie erfahren, dass ich es dir erzählt habe, sonst kommen wir vielleicht in Schwierigkeiten. Die Sache soll unter Verschluss
     bleiben. Der Konzern hatte Alberto für einen sehr wichtigen Posten ausgewählt, und man will nicht, dass die Nachricht sich
     herumspricht und für Unruhe bei den Investoren sorgt.«
    Isabel nickte. Die Geschäftsführung kümmerte sich um ihn, das war das Wichtigste, dann ging alles mit rechten Dingen zu.
    Vera trocknete sich die letzten Tränen vom Gesicht. Dann nahm sie ihre Handtasche und stand auf, um zur Toilette zu gehen.
     Isabel blieb nachdenklich zurück. Vera war eine anständige Frau, und obwohl es vielleicht falsch von ihr gewesen war, eine
     Beziehung mit einem verheirateten Mann anzufangen, hatte sie ihn zweifellos sehr gern. Isabels Blick fiel auf die Teller,
     die auf dem Tisch standen. Die Lust auf das Omelett war ihr gründlich vergangen. Wenigstens stellte sich die Lage nun etwas
     klarer dar. Wenn die Firma eine Restrukturierung geplant hatte, dann war Lunas Beförderung nicht mehr so erstaunlich, und
     die von Rai schon gar nicht. Wenn Alberto Hernán aufsteigen sollte, lag der Gedanke nahe, dass Rai früher oder später seinen
     Posten übernahm; da verwunderte es nicht, dass sie den Wechsel nun so schnell durchgezogen hatten. So konnte es gar nicht
     erst zu Problemen auf dem Stockwerk kommen. Doch Isabel verstand den eigentlichen Grund für die Veränderungen noch nicht,
     zumal der Konzern in den letzten Jahren hervorragende Ergebnisse vorgelegt hatte – dank der Diversifizierung in eine Vielzahl
     verschiedener Geschäftsbereiche, von Beratungsleistungen bis hin zur Handyproduktion. Hm. Beförderungen und Versetzungen.
     Einen Augenblick lang ließ Isabel im Geiste eine Reihe von Kandidaten an sich vorüberziehen, die sie interviewt und für bestimmte
     Aufgaben in der Firma empfohlen hatte. Auf welchem Stockwerk arbeitete jetzt wohl der junge Mann mit den Dreadlocks, der keinen
     Uniabschluss hatte, dafür aber neun Fremdsprachen beherrschte? Und wo war wohl die kleingewachsene, ein bisschen verhuscht
     wirkende junge Frau, die Isabel so sehr daran erinnert hatte, wie sie selbst vor Jahren gewesen war? Viele Gesichter kamen
     ihr in den Sinn, und einigen konnte sie auch noch Namen zuordnen   … Sie sah kurz auf die Uhr und war baff. Es waren mehr als fünfzehn Minuten vergangen. Vera brauchte entschieden zu lange.
    Aus dem Restaurant drangen immer lautere Gesprächsfetzen ins Separee. Die meisten Gäste hatten ihre Mahlzeit beendet undplauderten nun noch an der Bar oder an den Tischen. Isabel stand auf, um Vera suchen zu gehen. Im hinteren Teil des Restaurants
     ließ sie eine Frau vorbei, die gerade aus der Damentoilette kam, trat ein und sah sich um. Es gab zwei Waschbecken aus grauem
     Marmor, darüber einen hell erleuchteten Spiegel, und drei abgetrennte Toiletten.
    »Vera?«
    Isabel klopfte an die Tür der ersten Kabine, dann der zweiten, dann der dritten. Keine Reaktion. Sie öffnete die erste Tür.
     Das Licht der Leuchtstoffröhre beleuchtete eine leere Toilettenschüssel. Auch in der mittleren Kabine war niemand. Isabel
     versuchte es mit der letzten Tür, aber sie war verriegelt.
    »Vera? Bist du da drin?«
    Keine Antwort.
    »Vera? Kann ich dir irgendwie helfen?«
    Isabel drehte sich um, entschlossen, dem Kellner Bescheid zu sagen, dass man die Tür aufbrechen müsste. Auf einmal knarrte
     etwas hinter ihr, und eine Hand packte sie am Arm und zog sie in die Toilette. Eine zweite Hand hielt Isabel den Mund zu und
     erstickte den Schrei, der bereits auf ihren Lippen gelegen hatte. Es brannte kein Licht. Isabel bekam ein unverwechselbares
     Parfüm in die Nase und

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