Der Adler ist gelandet
umrundeten die Mole und fuhren die etwa achthundert Meter lange Hafenmauer bis Braye entlang. Im Hafen lagen erstaunlich viele Schiffe, zumeist französische Küstenfahrer, die vom Festland Baumaterial für die neuen Befestigungsanlagen brachten. Auf der ganzen Insel waren die Arbeiten im Gang.
Der kleine Landesteg war verlängert worden. Ein S-Boot lag dort vertäut, und als das Motorboot heranglitt, schrien die Männer an Deck Hurra, und ein junger bärtiger Leutnant in einem schweren Pullover und salzfleckiger Mütze salutierte. »Gute Arbeit, Herr Oberstleutnant.«
Steiner dankte und stieg über die Reling. »Vielen Dank, König.« Er ging den Landesteg hinauf, Brandt folgte ihm und stützte Neumann. Als sie oben waren, kam eine große schwarze Limousine angefahren, ein alter Wolseley, und bremste vor ihnen. Der Fahrer sprang heraus und riß den rückwärtigen Schlag auf.
Als erster stieg der Mann aus, der zur Zeit stellvertretender Kommandant auf der Insel Alderney war, Oberst Hans Neuhoff. Wie Steiner hatte er den Winterkrieg mitgemacht, hatte bei Leningrad einen Lungenschuß abbekommen, von dem er nie mehr richtig genesen würde, und sein Gesicht trug den resignierten Ausdruck eines Menschen, der unaufhaltsam dem Tod entgegengeht und es auch weiß. Seine Frau stieg nach ihm aus dem Wagen.
Ilse Neuhoff war damals siebenundzwanzig, eine schlanke, aristokratisch aussehende Blondine mit vollem Mund und gutgeformten Backenknochen. Die meisten Leute drehten sich nach ihr um, und nicht nur, weil sie schön war, sondern weil man das Gefühl hatte, sie zu kennen. Sie hatte zu den vielversprechendsten Nachwuchstalenten der UFA gehört und war in der Berliner Gesellschaft sehr beliebt gewesen, von Goebbels gefördert, vom Führer persönlich bewundert.
Ihre Ehe mit Hans Neuhoff basierte auf echter Zuneigung, die weit über körperliche Liebe hinausging. Sie hatte ihn nach seiner Verwundung aufopfernd gepflegt, war nicht von seiner Seite gewichen und hatte ihren ganzen Einfluß aufgeboten, um ihm seinen jetzigen Posten zu verschaffen. Mit Goebbels' Hilfe war es ihr sogar gelungen, ihren Mann auf Alderney besuchen zu dürfen. Zwischen den Neuhoffs herrschte inniges gegenseitiges Verstehen, und so konnte Ilse Neuhoff auf Steiner zugehen und ihn in aller Offenheit auf die Wange küssen. »Sie haben uns Sorgen gemacht, Herr Steiner.«
Neuhoff schüttelte ihm in aufrichtiger Freude die Hand. »Fabelhafte Arbeit, Steiner. Werde es sofort nach Berlin melden.« »Um Gottes willen, nur das nicht«, wehrte Steiner in gespieltem Schrecken ab. »Dann schicken sie mich am Ende wieder nach Rußland zurück.« Ilse nahm seinen Arm. »Als ich Ihnen das letztemal die Karten las, stand nichts davon drin. Aber ich kann sie Ihnen heute abend nochmals aufschlagen, wenn Sie wollen.«
Vom äußeren Landesteg hörte man Rufe, und sie kamen gerade rechtzeitig hinunter, um das zweite Rettungsboot anlegen zu sehen. Im Heck lag unter einer Decke eine Gestalt, und Unteroffizier Altmann kam aus dem Ruderhaus. »Herr Oberstleutnant?« rief er. Er wartete auf einen Befehl.
Steiner nickte, und Altmann hob kurz die Decke hoch. Neumann war an Steiners Seite getreten und sagte bitter: »Lemke. Kreta, Stalingrad... alle die Jahre, und jetzt dieses Ende.«
»Wenn dein Name auf der Kugel steht, bist du dran«, sagte Brandt. Steiner wandte sich um und blickte in Ilse Neuhoffs bestürztes Gesicht. »Sie lassen Ihre Karten besser in der Schachtel. Noch ein paar Nachmittage wie dieser, und die Frage heißt nicht mehr, ob es passiert, sondern nur noch wann.«
Er nahm sie beim Arm, lächelte fröhlich und geleitete sie zum Wagen.
Canaris hatte am Nachmittag eine Besprechung mit Ribbentrop und Goebbels und konnte Radl erst um sechs Uhr empfangen. Von Steiners Kriegsgerichts-Protokollen keine Spur.
Fünf Minuten vor sechs klopfte Hofer an die Tür von Radls Büro und trat ein. »Sind sie da?« fragte Radl sofort. »Leider nein, Herr Oberst.«
»Und warum nicht, zum Teufel?« fragte Radl ärgerlich. »Da es sich ursprünglich um eine Anklage seitens der SS handelte, scheinen die Papiere sich in der Prinz-Albrecht-Straße zu befinden.« »Haben Sie das Exposé angefertigt?«
»Jawohl, Herr Oberst.« Hofer übergab ihm ein säuberlich getipptes Blatt.
Radl las es rasch durch. »Ausgezeichnet, Hofer. Wirklich ausgezeichnet.« Er lächelte anerkennend und zog seinen ohnehin tadellos sitzenden Uniformrock mit seiner gesunden Hand glatt. »Sie sind jetzt
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