Der Agent - The Invisible
Mittagzeit noch überraschend viel los war. Pétain flüsterte ihm verstohlen zu, in diesem Restaurant sei ein im letzten Jahr entführter bekannter amerikanischer Journalist zum letzten Mal lebend gesehen worden.
Diese Geschichte, von Pétain eher beiläufig erwähnt, beschäftigte ihn seit zwei Stunden. Ihm waren bereits die misstrauischen, unfreundlichen Blicke aufgefallen, die ihm und Pétain in der islamischen Republik zugeworfen wurden. Er fühlte sich an einen kurzen Aufenthalt in Südkorea im Jahr
1993 erinnert, als er gerade Offizier der U.S. Army geworden war. Er ging durch Seoul, in Zivil, als ihn plötzlich eine ältere Frau ankreischte, mit wutverzerrtem Gesicht, die erhobene Faust schüttelnd. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, und ging einfach weiter. Zurück in Fort Carson, hatte er den Vorfall gegenüber dem Kompaniechef erwähnt, der einige Zeit in Korea verbracht hatte, doch der zuckte nur die Achseln und wechselte das Thema.
Es hängt einfach mit der Geschichte des geteilten Landes zusammen, hatte er damals gedacht. In Südkorea gab es immer noch eine weitverbreitete Antipathie gegenüber den Vereinigten Staaten, was größtenteils damit zusammenhing, dass es nach dem Ende des Koreakriegs nie einen kompletten Abzug der amerikanischen Truppen gegeben hatte - wobei »Ende« in diesem Fall nur den 1953 vereinbarten, fragilen Waffenstillstand meinte. Bis auf den heutigen Tag waren dreißigtausend amerikanische Soldaten auf der koreanischen Halbinsel stationiert.
Doch das war für ihn eine völlig andere Situation. Die Abneigung der Koreaner war vielleicht verständlich, die Episode mit der alten Frau ein Einzelfall. Ansonsten war er im Fernen Osten nie antiamerikanischen Ressentiments begegnet. In Pakistan war die Feindseligkeit dagegen überall spürbar. Er wusste nicht, in welchem Ausmaß es mit Brenneman, Musharraf und den Spannungen zwischen ihren Regierungen zu tun hatte, aber die Tatsache an sich war nicht zu übersehen.
Er nahm neben sich eine Bewegung wahr und blickte zu Marissa Pétain hinüber. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, da sie aus dem gegenüberliegenden Seitenfenster schaute, aber ihre Körperhaltung wirkte angespannt. Er ahnte, dass sie die gleichen beunruhigenden Gedanken beschäftigten wie ihn.
Wahrscheinlich war es bei ihr noch schlimmer, da sie über weniger Informationen verfügte als er. Er wusste wenigstens, wer diesen kleinen Ausflug angestoßen hatte, doch das trug wenig dazu bei, sein ungutes Gefühl zu beschwichtigen. Wie würde Pétain reagieren, wenn er ihr erzählte, dass sie nur aufgrund der Beziehungen ihres Vaters in Pakistan waren?
Er blickte durch die Windschutzscheibe. Der Fahrer war jener Mann, der sie an dem Restaurant abgeholt hatte. Nawaz, der Kellner, hatte sie durch die Küche, wo ihnen niemand einen zweiten Blick schenkte, zum Hinterausgang geführt, wo der Fahrer bereits neben dem in der Seitengasse geparkten, nicht registrierten Taxi wartete. Als seinen Namen hatte er »Abdul« genannt, was so war, als hätte sich in Amerika jemand als »John Smith« vorgestellt. Es war ein völlig bedeutungsloser und wahrscheinlich falscher Name. Abdul wird Sie zu dem Mann bringen, den Sie treffen möchten, hatte Nawaz ihm ins Ohr geflüstert. Er ist ein Freund des Mannes, der Sie hierhergeschickt hat. Sie können ihm vertrauen.
Kealey sah Abduls Gesicht im Rückspiegel und studierte es kurz. Es war kein Gesicht, das sich der Erinnerung einprägte - fettiges schwarzes Haar, lange Hakennase, selbstzufriedene braune Augen, dünne Lippen. Ein Detail stach allerdings ins Auge. Sein Gesicht war nicht das eines städtischen Taxifahrers, sondern das eines Mannes, der einen Großteil seines Lebens unter harten klimatischen Bedingungen verbracht hatte. Die Gesichtshaut war von tiefen Falten zerfurcht und wirkte rau wie Schmirgelpapier. In diesem Moment blickte er in den Rückspiegel, und ihre Blicke trafen sich. Kealey schaute nicht weg, und für ein paar Sekunden betrachteten sie sich, ohne dass die Miene eines der beiden Männer etwas preisgegeben hätte. Dann richtete Abdul den Blick wieder auf die Straße.
Der von Osten her aufziehende Sturm kam schnell näher, und bald musste Abdul langsamer fahren. Als sie am Bundu Khan aufgebrochen waren, fuhr er zuerst kreuz und quer durch die Innenstadt, offensichtlich nach Verfolgern Ausschau haltend. Nach einer Stunde verließ er die Stadt auf der Allama Iqbal, einer Straße, die den gleichen Namen trug wie der
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