Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
sie ging nicht dran, und er konnte es auch nirgendwo im Haus klingeln hören. Als er allmählich in Panik geriet, bekam er eine SMS , in der stand: »Uuuuuuuhhhhhhhhnnnn.«
» ALLES OK BEI DIR??? «, schrieb Sam zurück.
»Nein.«
»Wo bist du, Merde?«
»Glaubst du an die Hölle?«
Er bekam kaum noch Luft. »Bist du verletzt?«
»Überall.«
Irgendjemand musste sie unter Drogen gesetzt oder auf den Kopf geschlagen haben.
»Wer hat dir das angetan ?«
»Onkel Jeff.«
Onkel Jeff stand genau wie alle anderen in der Küche und versuchte, über Sams Schulter hinweg Merediths Nachricht zu lesen, um endlich herauszufinden, wo sie steckte.
»Bist du alleine? Ist jemand bei dir?«
»Ich bin ganz alleine.«
»Warum kannst du nicht ans Telefon gehen?«, tippte er.
» Ich kann jetzt nicht reden«, antwortete sie.
»Beschreib mir deine Umgebung. Was siehst du?«
»Hässliche Tapete. Schmutziger Boden. Und es stinkt.«
»Kannst du dich noch erinnern, wie du dort hingekommen bist? Warst du …« Er hielt inne, schluckte und kniff die Augen zu, bevor er sie wieder öffnete und sich zwang, die Frage zu Ende zu tippen: »… bei Bewusstsein?«
»???«, schrieb sie zurück.
Seine Gedanken rasten, und es pochte hinter seinen Augen, während er die Fragezeichen zu enträtseln versuchte. Was wollte sie ihm damit sagen? Und was sollte er als Nächstes schreiben? Plötzlich summte sein Handy erneut.
»Mensch, Sam! Ich bin nicht entführt worden, du Idiot!«
Alle in der Küche Versammelten atmeten erleichtert auf. Nur Sam war so verwirrt, dass ihm immer noch mehr nach Panik als nach Erleichterung war.
»Was dann?«, fragte er.
»Lebensmittelvergiftung, glaube ich.«
»Lebensmittelvergiftung?!«
»Onkel Jeff hat mich mit Eierlikör vergiftet.«
» WO BIST DU? «
»In dem komischen Badezimmer, da s Tante Maddie auf dem Dachboden entdeckt hat.«
» WARUM? «
»Ich w ollte allein sein.«
»Ich habe überall nach dir gesucht. Du hast mich zu Tode erschreckt! «
»Sorry. Ich versuche nur, alles wieder loszuwerden. Und zwar in Ruhe.«
Sam war immer noch bemüht, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen, während die Sorge der anderen sich längst in Ausgelassenheit verwandelt hatte. Gemeinsam zog man sich ins Wohnzimmer zurück und fing an, peinliche Geschichten aus Merediths Kindheit zu erzählen. Ihr jetziges Missgeschick wurde sofort mit in den Kanon aufgenommen. Auch Sam versuchte es nun mit einer unbekümmerten SMS : »Das Badezimmer war echt eklig.«
»Nicht so eklig, wie es jetzt ist«, schrieb Meredith zurück.
Aber Sam konnte die nackte Panik, die ihn hinterrücks überfallen hatte, nicht so schnell wieder abschütteln. Er ging hinauf in den zweiten Stock, stieg durch die Falltür auf den Dachboden hinauf, überquerte löchrige, unlackierte Holzplanken und kroch unter die Dachschräge, um bei Meredith zu sitzen, den Rücken an die Badezimmert ür gelehnt, während sie auf der anderen Seite kauerte. Da sie ihn nicht hineinlassen wollte, redete er eben durch die Tür mit ihr. Er erzählte ihr Witze und Anekdoten aus seiner eigenen peinlichen Kindheit und dachte sich Parabeln über gefährliche Kreaturen aus, die in rohen Eiern hausten und sich nicht durch allen Brandy der Welt abtöten ließen. Sie kicherte und würgte und stöhnte abwechselnd, bis sie ihm schließlich per SMS mitteilte: »Ich glaub, jetzt ist alles raus, und zwar vorne und hinten.«
»Bist du sicher?«, schrieb er zurück. »So etwas sollte man nicht übereilen.« Sein Hintern war inzwischen längst eingeschlafen, genau wie vermutlich auch der Rest der Verwandtschaft.
»Ja, ic h glaube, ich bin fertig«, schrieb sie. »Hast du mich vermisst?«
»Wie denn? Ich war doch die ganze Zeit hier.«
»Danke, dass du dich zu mir gesetzt hast, Sam.«
»Danke, dass du nicht entführt wurdest.«
»Gern geschehen. Und jetzt warte bitte unten auf mich. Dieses Badezimmer muss eine Weile allein sein und über die vergangenen Stunden nachdenken.«
Ein Gutes hatte der Eierlikör-Vorfall allerdings – abgesehen davon, dass Meredith nicht entführt worden war: Selbst stinksaure Eltern können nicht anders, als sich um ihr krankes Kind zu kümmern.
Die Stimmung zwischen Meredith, Julia und Kyle war die ganze Woche angespannt gewesen. Jeder der drei hatte genau aufgepasst, was er sagte, wo er hinsah und wie er die anderen berührte. Der Umgangston war freundlich, aber ein wenig gezwungen gewesen. Jetzt rannte Kyle zum Supermarkt, um Salzstangen,
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