Der amerikanische Architekt
dem er den ganzen Abend vor sich hingedöst hatte. Jetzt war er hellwach.
Sean holte tief Luft. »Es ist nicht gelogen.« Bei seiner Mutter waren die äußeren Anzeichen des Missfallens so unauffällig, dass man sie leicht übersehen konnte, wenn man nicht wusste, worauf man achten musste. Aber Sean wusste es: die schmaler werdenden Lippen, die Ohren, die sich leicht nach hinten legten und den Haaransatz mitnahmen. »Nicht richtig gelogen, will ich damit sagen. Sie übertreibt natürlich – sie musste die Schlinge nicht tragen, sie trug sie nur, damit ich mich mies fühlte und damit sie nicht zur Arbeit gehen musste. Aber es ist nicht richtig gelogen.«
Irina war ein Schatten, der nicht einmal nachts verschwand, ein Fehler mit anhaltenden Folgen. Sie hatten geheiratet, als sie sich gerade erst ein paar Monate kannten – schnell, alkoholisiert, nur standesamtlich. »Keine Kirche?«, war alles, was seine Mutter gesagt hatte, als er es ihr erzählte. Ein Urteil, aber auch eine Nachfrage, als wolle sie sich auf ihre typische, irritierend vorausschauende Art vergewissern, wie schwer es werden würde, die Geschichte zu beenden. Die nächsten fünf Monate waren sie fast ständig betrunken gewesen. Dann kam der Anschlag. Während er nach Leichen suchte, hortete sie Vorwürfe, und wenn er nach Hause kam, verbannte sie ihn auf die Couch, weil sein ständiges Husten sie wachhielt. Sie ereiferte sich über die Dummheit des Barbesitzers, für den sie arbeitete, redete endlos darüber, ob die Angst die Leute dazu brachte, mehr oder weniger Trinkgeld zu geben, lag ihm damit in den Ohren, wie sehr sie ihre Mutter hasste. Durch den Nebel seiner Erschöpfung sah er sie zum ersten Mal in aller Deutlichkeit: im Hintergrund eine problematische Kindheit, ein ausgeprägter Selbsterhaltungstrieb, der zu krasser Egozentrik geworden war, ständig betrunken. Diese Erkenntnis war sicherlich darauf zurückzuführen, dass er selbst zum ersten Mal, seit sie sich kannten, nüchtern war, und seine schier unersättliche Begierde verwandelte sich in Abneigung. Als sie einmal zu oft nörgelte, ein Toter läge mit ihnen im Bett, schnürte sein Brustkorb sich zusammen und er stieß sie gegen die Wand, und obwohl er sie gleich darauf in seine Arme riss, ließ sich das zornige Hämmern seines Herzens ebenso wenig beschwichtigen wie ihres. Sie ließen sich scheiden, sobald das Gesetz es ihnen erlaubte, und sie blieb in der Wohnung, die ursprünglich seine gewesen war.
»Das wäre also erledigt«, war alles, was seine Mutter dazu gesagt hatte.
Jetzt versuchte Sean ihr zu erklären, wieso er handgreiflich geworden war. »Sie hat abfällig über Patrick geredet«, sagte er in der Hoffnung, sein Eintreten für seinen Bruder würde seine Tat entschuldigen. Sobald die Ohren sich zurücklegten, wusste er, dass das nicht der Fall sein würde.
»Patrick hätte niemals eine Frau angerührt«, sagte Eileen.
»Nicht einmal die«, fügte Frank hinzu.
Das zweite Kopftuch wurde eine Woche später abgerissen. In einem Einkaufszentrum in Queens trat ein Mann auf eine muslimische Frau zu, die einen Kinderwagen schob, riss ihr Kopftuch nach hinten und rannte. Der nächste Vorfall ereignete sich in Boston. Diesmal ergriff der Missetäter nicht die Flucht, sondern wartete auf seine Festnahme durch die Polizei, damit er in den Medien sagen konnte: »Ich habe diesen Typ in den Nachrichten gesehen und gedacht, eigentlich müssten wir alle so mutig sein, eigentlich müssten wir alle Stellung beziehen.« Es gab weitere Nachahmer, und Nachahmer der Nachahmer, so dass innerhalb einer Woche im ganzen Land mehr als ein Dutzend ähnlicher Vorfälle zu verzeichnen waren. Als Zeichen der Solidarität fingen nicht-muslimische Frauen an, ebenfalls Kopftücher zu tragen, aber niemand kam ihnen zu nahe.
In einem Leitartikel der New York Times wurde Sean als Vertreter »einer neuen, unheilvollen Form der Intoleranz im Land« bezeichnet. Reporter wollten von ihm wissen, wie es sich anfühlte, eine neue Form der Intoleranz zu verkörpern. Die Atmosphäre im Haus seiner Kindheit wurde immer unterkühlter. »Ich dachte immer, es sind die Muslime, die ihre Frauen misshandeln«, sagte Eileen zu ihm, als er eines Tages vor dem Abendessen in die Küche kam. Sie hatte eine Grillpfanne mit Hähnchenteilen in den Händen, aber bevor er die Schwingtür zum Esszimmer für sie öffnen konnte, hatte sie sie selbst mit der Kehrseite aufgestoßen.
Als das FBI kam, um ihm mitzuteilen, in
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