Der Anfang aller Dinge: Roman (German Edition)
müssen. Es war nicht einmal eine Vermutung, über die sie mit ihm hätte diskutieren können. Er hatte einfach eine Tatsache in Worte gefasst.
»Sind wir nicht schon ein bisschen spät dran?«, lenkte Liv ein wenig verzweifelt ab. Es kam ihr merkwürdig vor, dass sie den kühlen Blick seiner Augen, obwohl sie ununterbrochen Blickkontakt mit den ihren hielten, durch ihren Mantel und das Kleid hindurch auf ihrer Haut brennen spürte. Sie hätte schwören können, dass er ganz genau wusste, wie sie aussah, bis hin zu dem winzigen sichelförmigen Muttermal unter ihrer linken Brust.
»Thorpe.« Kurzzeitig wurde sie von einem Anflug von Panik gepackt. »Bitte nicht.«
Sie war verletzt. Er sah es. Spürte es. Sie war schon früher verletzt worden. Er erinnerte sich an seine Entscheidung, sein Ziel ganz langsam und behutsam zu verfolgen. Er ging zur Tür, Livs Hand in der seinen.
Lichter. Musik. Eleganz. Liv fragte sich unwillkürlich, wie viele solcher Partys sie in ihrem Leben schon mitgemacht hatte. Was unterschied diese Party von Hunderten anderen? Die Politiker.
Dies hier war eine kleine, gut überschaubare und sehr intime Welt. Man war ernannt oder gewählt, aber stets ein leicht auszumachendes Ziel für die Presse, und verwundbar wegen deren Einfluss auf die Öffentlichkeit. Es war gang und gäbe, dass eine Gruppe die andere beschuldigte, Nachrichten zu inszenieren
– was manchmal auch stimmte. Ob es sich nun um ein gesellschaftliches oder offizielles Ereignis handelte, immer gab es Bilder zu projizieren. Und diese Bilder waren Liv vertraut.
Der Senator, der neben ihr an einer Pastete knabberte, war ein Liberaler; sein burschikos zerzaustes Haar umrahmte ein offenes, aufrichtiges Gesicht. Liv wusste, dass er scharf war wie ein Kampfhund und gefährlich ehrgeizig. Ein ehemaliger Kongressabgeordneter gab eine nicht ganz salonfähige Geschichte übers Hochseefischen zum Besten. Er war ein erbitterter Gegner der momentan heiß diskutierten Steuerreform.
Liv erspähte einen Reporter einer einflussreichen Washingtoner Tageszeitung, der ununterbrochen trank. Wenn sie sich nicht verzählt hatte, kippte er gerade seinen fünften Bourbon, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch seine Finger klammerten sich um das Glas, als sei es ein Rettungsring und er am Ertrinken. Sie kannte die Anzeichen und empfand ein wenig Mitleid mit ihm. Wenn er nicht schon jetzt sein Frühstück in flüssiger Form zu sich nahm, dann würde er es bestimmt bald tun.
»Jeder kompensiert Stress auf seine Weise«, bemerkte Thorpe, der Livs Blick gefolgt war.
»Ja, wahrscheinlich. Ich hatte ein Freundin bei einer Zeitung in Austin«, sagte Liv und nahm Thorpe das Glas Wein aus der Hand, das er ihr reichte, »die pflegte zu sagen, die Zeitungen gäben Informationen an die denkende Bevölkerung, während das Fernsehen eine Show daraus macht.«
Thorpe zündete sich eine Zigarette an. »Und, was hast du erwidert?«
»Ich hielt dagegen, dass die Anzeigen in der New York Times auch nicht besser seien als die Werbeeinschaltungen im Fernsehen.« Sie lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken an ihre ernsthafte Reporterkollegin. »Ich vertrat die Meinung, dass das Fernsehen unmittelbarer sei; sie behauptete, das geschriebene Wort erlaube dem Leser nachzudenken.« Achselzuckend nippte sie an dem kühlen, trockenen Wein. »Wir haben beide Recht, glaube ich.«
»Ich habe während meiner Collegezeit für eine Zeitung geschrieben.« Liv, die die Leute um sich herum studierte und alles in sich aufsaugte, drehte sich abrupt zu Thorpe um und sah ihn neugierig an.
»Warum hast du dann zum Fernsehen gewechselt?«
»Mir gefiel das schnellere Tempo, die Möglichkeit, die Leute direkt vor Ort zu erreichen.«
Liv nickte. Sie verstand genau, was er meinte. Er hielt ein Glas Scotch in der Hand, doch im Gegensatz zu dem Kollegen, den sie vorhin beobachtet hatte, trank er wenig …dafür rauchte er umso mehr. Sie dachte an Carl, den sie niemals ohne brennende Zigarette antraf. »Und wie gehst du mit Stress um?«
Thorpe grinste und überraschte sie dann, indem er mit dem Daumen über die Perle an ihrem Ohr strich. »Ich rudere.«
»Was?« Seine Berührung hatte sie abgelenkt. Jetzt konzentrierte sie sich wieder ganz auf sein Gesicht.
»Rudern«, wiederholte er. »Auf einem Fluss, ein Boot. Wenn es zu kalt dafür ist, spiele ich Handball.«
»Rudern«, sinnierte Liv. Das erklärt die Schwielen an seinen Händen.
»Ja, du weißt schon: An die Riemen, Yale!«
Liv
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