Der Anfang aller Dinge: Roman (German Edition)
Hintergrund, während er Liv bei ihrer Reportage beobachtete. Ihr Gesichtsausdruck war gefasst, doch ihre Augen spiegelten den Schrecken der Katastrophe wider. Ob ihr das bewusst war oder nicht, konnte er nicht sagen, doch ihre Ergriffenheit verstärkte die Aussagekraft der Fakten, die sie soeben den Zuschauern übermittelte. Auf ihren Wangen waren Spuren von Asche zu sehen und sie war leichenblass. Ein aufmerksamer Zuschauer sah in ihr in erster Linie eine Frau, und dann erst die Reporterin. Sie machte ihren Job gut, überlegte Thorpe, und wahrscheinlich gerade deshalb, weil sie ständig ihre Gefühle unterdrücken musste. Das merkte man von Zeit zu Zeit, und das machte sie für ihre Zuschauer zugänglicher.
»Für WWBW berichtete Olivia Carmichael«, beendete sie ihre Reportage und wartete auf das Schlusssignal, ehe sie den kleinen schwarzen Knopf aus dem Ohr zog. »Okay, mach du jetzt ein paar Szenen mit den Sanitätern, ich versuche einstweilen herauszufinden, ob sie schon in den sechsten Stock vorgedrungen sind. Und lass einen Kurier herschicken. Sie werden alles, was wir kriegen können, für die Mittagsnachrichten brauchen.«
Liv hatte sich wieder voll im Griff. Der kurze Schwächeanfall war gemeistert.
»Sehr routiniert«, bemerkte Thorpe.
Liv sah ihn an. Er strahlte ruhige Überlegenheit und Stärke aus. Einen kurzen Augenblick war Liv verunsichert, dass sie ihn gebraucht hatte – einfach hatte wissen müssen, dass er da war, um sich an ihn anzulehnen. Und das war ein Luxus, den sie sich nicht erlauben konnte.
»Der Trick ist, einfach gut zu sein«, wiederholte Liv. »Damit wären wir immerhin auf einen gemeinsamen Nenner gekommen.«
Thorpe lächelte und strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. »Soll ich in deiner Nähe bleiben?«
Liv starrte ihn an, verwirrt von ihren widersprüchlichen Gefühlen. Wie kam es, dass er sie so mühelos beeindrucken
konnte. »Sei nicht so nett zu mir, Thorpe«, flüsterte sie. »Bitte, sei nicht so nett. Es ist einfacher, wenn du ekelhaft bist.«
Er beugte sich zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Ich ruf dich heute Abend an.«
»Nein«, widersprach sie, doch er war schon zehn Schritte von ihr entfernt. Fluchend drehte sie sich um. Über Thorpe konnte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Sie musste noch Informationen sammeln und ihre Story zu Ende bringen.
Liv sah sich die Aufzeichnung in den Elf-Uhr-Nachrichten an. Da wirkte sie ganz anders als bei ihrer eigenen Berichterstattung. Wenn sie hinter dem Ansagepult saß, die Nachrichten verlas und sich selbst im Monitor beobachtete, fiel es ihr leichter, ihre Gefühle von ihrer Arbeit zu trennen. Doch als sie jetzt allein in ihrem Wohnzimmer saß und den Bericht wie jeder andere Zuschauer verfolgte, kam ihr das ganze Ausmaß dieser Tragödie noch einmal voll zu Bewusstsein. Die Katastrophe hatte 62 Menschenleben gefordert und 15 Verletzte, darunter vier Feuerwehrleute. Die Untersuchungen waren noch nicht abgeschlossen, doch wie es schien, war das Unglück auf einen Pilotenfehler zurückzuführen.
Liv dachte an die alte Frau, die sie versucht hatte zu trösten – an dieses Fotoalbum, das sie umklammert hatte, den Schock und die anschließende Trauer. Im sechsten Stockwerk hatte es keine Überlebenden gegeben.
Dass das Unglück am frühen Nachmittag stattgefunden hatte, war in gewisser Hinsicht ein Segen. Das hatte Liv auch in ihrem Bericht angemerkt. Die meisten Bewohner waren um diese Uhrzeit außer Haus; die Kinder in der Schule, die Erwachsenen bei der Arbeit. Aber der kleine Dawson von 601 hatte Grippe gehabt.
Liv stand auf und schaltete den Fernseher aus. Sie konnte nicht daran denken, wollte sich das Grauen nicht ausmalen. Sie rieb sich die schmerzenden Schläfen. Es war Zeit, ein Aspirin zu nehmen und zu Bett zu gehen. Was an diesem Morgen geschehen war, war nicht zu ändern, und sie musste Abstand dazu gewinnen.
Als sie in ihr Bett kroch, fiel ihr plötzlich ein, dass sie nichts
zu Abend gegessen hatte. Daher rührten wahrscheinlich auch zum Teil ihre starken Kopfschmerzen, doch sie war zu erschöpft, um noch einmal aufzustehen und etwas zu essen. Sie schloss die Augen, lag allein in der Dunkelheit.
Sie hatte sich dafür entschieden. Ruhe und ein eigenes Leben. Niemand, von dem sie abhängig war – niemand, dem sie antworten musste. Sie war nur für sich selbst verantwortlich, und so war es am besten.
Sie öffnete die Augen, starrte an die Decke und fragte
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