Der Anschlag - King, S: Anschlag
Jahre lang mit Christy verheiratet gewesen war, sah ich trotzdem nach. Dann betätigte ich die Spülung. Als das erledigt war, schlüpfte ich an ihr vorbei zur Badezimmertür. »Ich gebe dir drei Minuten«, sagte ich.
9
Auf dem braunen Umschlag stand als Absender John Clayton, East Oglethorpe Avenue 79, Savannah, Georgia. Man konnte dem Hundesohn gewiss nicht vorwerfen, dass er unter falscher Flagge segelte oder im Schutz der Anonymität operierte. Der am 28. August abgestempelte Brief hatte vermutlich hier auf sie gewartet, als sie aus Reno zurückgekommen war. Sie hatte fast zwei Monate Zeit gehabt, über seinen Inhalt nachzugrübeln. Hatte sie nicht traurig und deprimiert geklungen, als ich am Abend des 6. September mit ihr telefoniert hatte? Na ja, kein Wunder, wenn man die Fotos betrachtete, die ihr Ex ihr aufmerksamerweise geschickt hatte.
Wir sind alle in Gefahr, hatte sie bei unserem letzten Telefongespräch gesagt. Damit hat Johnny recht.
Die Fotos zeigten japanische Männer, Frauen und Kinder – Opfer der Atombombenexplosionen in Hiroshima oder Nagasaki. Manche waren blind. Viele waren kahl. Die meisten hatten Strahlenverbrennungen erlitten. Einige wie die Frau ohne Gesicht waren gegrillt worden. Eines der Fotos zeigte ein Quartett aus verkrümmten Gestalten. Die vier Menschen hatten vor einer Mauer gestanden, als die Bombe detoniert war. Sie waren verdampft, und die Mauer war größtenteils ebenfalls verdampft. Übrig geblieben waren nur die Teile, die durch Davorstehende abgedeckt gewesen waren. Die Gestalten waren schwarz, weil sie mit verkohltem Fleisch bedeckt waren.
Auf die Rückseite jedes Fotos hatte Clayton in seiner deutlichen, sauberen Schrift denselben Text geschrieben: Bald auch in Amerika. Die Statistik lügt nicht.
»Nett, nicht wahr?«
Ihre Stimme war matt und farblos. Sie stand in das Badetuch gewickelt in der Tür. Ihre Haare fielen in feuchten Ringellöckchen auf ihre bloßen Schultern.
»Wie viel hast du getrunken, Sadie?«
»Nur ein paar Schlucke, weil die Tabletten nicht gewirkt haben. Ich glaube, das hab ich dir schon zu erklären versucht, als du mich geschüttelt und geohrfeigt hast.«
»Wenn du denkst, dass ich mich dafür entschuldige, kannst du lange warten. Barbiturate und Schnaps sind eine schlechte Kombination.«
»Halb so schlimm«, sagte sie. »War nicht das erste Mal, dass mich jemand geschlagen hat.«
Das ließ mich an Marina denken, und ich zuckte zusammen. Gewiss, die Umstände waren nicht vergleichbar, aber Schläge waren Schläge. Und ich war wütend gewesen, nicht nur erschrocken.
Sadie ging zu dem Hocker vor ihrem Toilettentisch, setzte sich und zog das Badetuch enger um sich. Sie sah aus wie ein schmollendes Kind. Ein schmollendes, ängstliches Kind. »Mein Freund Roger Beaton hat angerufen. Hab ich dir das erzählt?«
»Ja.«
»Mein guter Freund Roger.« Ihr Blick forderte mich heraus, mich darüber aufzuregen. Aber das tat ich nicht. Letztlich war es ihr Leben. Ich wollte nur dafür sorgen, dass sie eines hatte.
»Okay, dein guter Freund Roger.«
»Er wollte, dass ich mir heute Abend unbedingt die Rede von dem irischen Arschloch anhöre. So hat er ihn bezeichnet. Dann hat er mich gefragt, wie weit Jodie von Dallas entfernt liegt. Als ich es ihm gesagt habe, hat er geantwortet: ›Das müsste eigentlich genügen, je nachdem von woher der Wind weht.‹ Er selbst verlässt Washington, das tun viele Leute, aber ich glaube nicht, dass es ihnen was nutzen wird. Einem Atomkrieg entkommt man nirgends.« Dann begann sie so laut und heftig zu schluchzen, dass sie am ganzen Körper bebte. »Diese Idioten werden unsere schöne Welt vernichten! Sie werden Kinder umbringen! Ich hasse sie! Ich hasse sie alle! Kennedy, Chruschtschow, Castro, die sollen alle in der Hölle schmoren!«
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ich kniete wie ein Gentleman der alten Schule bei einem Heiratsantrag vor ihr nieder und umarmte sie. Sie schlang die Arme um meinen Hals und klammerte sich an mich, fast als drohte sie sonst zu ertrinken. Ihr Körper war noch kalt von der Dusche, aber ihre Wange an meinem Arm fühlte sich fiebrig heiß an.
In diesem Augenblick hasste auch ich sie alle, am meisten John Clayton, der seine böse Saat in eine junge Frau gesät hatte, die in ihrer Ehe unsicher und psychisch verwundbar gewesen war. Er hatte sie gesät, sie gegossen, sie gehegt und zugesehen, wie sie aufging.
Und war Sadie die Einzige, die in dieser Nacht Angst und Schrecken empfand,
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