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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Gehirn. Ich machte viele Pausen, in denen ich an Hauswände gelehnt wie ein Reiher auf meinem gesunden Bein stand. Ein Taxifahrer, der gerade keinen Dienst hatte, erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei; ich versicherte ihm, dass mir nichts fehle. Aber das war gelogen. Ich war beunruhigt und fühlte mich elend. Ein Halbinvalide mit geschädigtem Knie sollte wirklich nicht das Schicksal der Welt schultern müssen.
    Ich ließ meinen dafür dankbaren Hintern auf der Bank nieder, auf der ich schon 1960 – nur wenige Tage nach meiner Ankunft in Dallas – gesessen hatte. Die Ulme, die mir Schatten gespendet hatte, raschelte heute mit unbelaubten Zweigen. Ich streckte mein schmerzendes Knie, seufzte erleichtert und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf den hässlichen Klinkerwürfel des Schulbuchlagers. Die auf die Houston Street und Elm Street hinausführenden Fenster glitzerten in der frostigen Nachmittagssonne. Wir kennen ein Geheimnis, sagten sie. Wir werden berühmt werden, vor allem das in der Südostecke im fünften Stock. Wir werden berühmt werden, und du kannst es nicht verhindern. Eine Aura dumpfer Bedrohlichkeit umgab das Gebäude. Und gab es noch jemand andres, der sie spürte? Ich beobachtete mehrere Fußgänger, die die Elm Street überquerten, und hatte das Gefühl, dass dem nicht so war. Lee war jetzt in diesem Würfel, und bei ihm war ich mir sicher, dass viele seiner Gedanken meinen ganz ähnlich waren. Kann ich es schaffen? Will ich es tun? Bin ich dazu bestimmt?
    Robert ist nicht mehr dein Bruder, dachte ich. Jetzt bin ich dein Bruder, Lee, dein Waffenbruder. Du weißt es nur noch nicht.
    Auf dem Ladegleis hinter dem Lagergebäude pfiff eine Lokomotive. Ein Taubenschwarm flog auf. Die Wildtauben umkreisten kurz die Hertz-Reklame auf dem Dach des Lagergebäudes, dann drehten sie in Richtung Fort Worth ab.
    Wenn ich ihn vor dem Zweiundzwanzigsten ermordete, war Kennedy gerettet, aber ich musste mich ziemlich sicher auf zwanzig bis dreißig Jahre Haft oder Psychiatrie gefasst machen. Aber wenn ich ihn am Zweiundzwanzigsten umlegte? Vielleicht während er sein Gewehr zusammensetzte?
    Bis fast zum Ende der Partie zu warten würde ein schreckliches Risiko sein, eines, das ich mit all meiner Macht zu vermeiden versucht hatte, aber ich hielt es für machbar – und vielleicht war es meine beste Chance. Es wäre sicherer gewesen, dabei mit einem Partner zusammenzuarbeiten, aber es gab nur Sadie, und die wollte ich auf keinen Fall mit hineinziehen. Nicht einmal, machte ich mir trübsinnig bewusst, wenn Kennedy deswegen sterben musste oder ich hinter Gitter wanderte. Sie hatte genug gelitten.
    Ich machte mich langsam auf den Rückweg zum Hotel, um meinen Wagen abzuholen. Über die Schulter warf ich noch einmal einen Blick auf das Schulbuchlager. Es beobachtete mich. Daran bestand kein Zweifel. Und selbstverständlich würde alles dort enden; es war töricht von mir gewesen, etwas anderes zu glauben. Ich war zu diesem Klinkerwürfel getrieben worden wie eine Kuh zur Schlachtbank.
    14
    20. 11. 63 (Mittwoch)
    Ich schrak mit Herzrasen aus irgendeinem Traum auf, an den ich mich nicht erinnern konnte.
    Sie weiß es.
    Weiß was?
    Dass du sie in Bezug auf all die Dinge, an die du dich angeblich nicht erinnern kannst, belogen hast.
    »Nein«, sagte ich. Meine Stimme klang vom Schlafen ganz eingerostet.
    Doch. Sie hat absichtlich gesagt, dass sie nach der sechsten Stunde kommt, weil du nicht wissen sollst, dass sie viel früher wegfahren will. Das sollst du erst merken, wenn sie aufkreuzt. Vielleicht ist sie sogar schon unterwegs. Wenn du mitten bei deiner morgendlichen Krankengymnastik bist, wird sie plötzlich hereinschneien.
    Das wollte ich nicht glauben, trotzdem erschien es mir so gut wie ausgemacht.
    Wohin sollte ich also verschwinden? Als ich im Morgengrauen dieses Mittwochs in meinem Bett saß, schien auch das eine ausgemachte Sache zu sein. Als hätte mein Unterbewusstsein das schon immer gewusst. Die Vergangenheit hatte ein Echo, sie hallte wider.
    Aber zuvor musste ich noch etwas auf meiner bewährten alten Schreibmaschine tippen. Etwas Unerfreuliches.
    15
    20. November 1963
    Liebe Sadie,
    ich habe Dich belogen. Ich glaube, dass Du diesen Verdacht nun schon seit einiger Zeit hast. Ich denke, dass Du morgen früh hier aufkreuzen willst. Deshalb wirst Du mich erst wiedersehen, nachdem JFK übermorgen Dallas besucht hat.
    Wenn alles klappt wie erhofft, werden wir an einem anderen Ort lange und glücklich

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