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Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Winner
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über den Tisch beugte.
    Die riesige Platte war über und über mit Papieren in allen erdenklichen Größen und Farben bedeckt. Grundrisse, Aufrisse, Entwürfe, Bauzeichnungen, Skizzen.
    Ben richtete sich auf, und sein Auge wanderte durch den Raum. Es musste sich um eine Art Arbeitszimmer handeln. An der Wand stand ein senkrecht gestellter Architektentisch mit den charakteristischen, rechtwinklig verbundenen Linealen, die durch zwei Schienen über den Tisch hinweg bewegt werden konnten. Das Gerät hatte Götz – Ben zweifelte keine Sekunde daran, dass die Arbeiten von ihm stammten – zuletzt verwendet, um darauf die großartige Vision einer Küstenstadt zu entwerfen, eine Stadtkulisse, die wirkte, als würde sie sich im 24 . Jahrhundert an den Gestaden eines Meeres erheben, das es heute noch gar nicht gab. Dabei machte der Entwurf einen umso erhabeneren Eindruck, als Götz nicht nur detailgenau die hoch aufragenden Wolkenkratzer eingezeichnet hatte, sondern mit spitzem Stift diesen zu Füßen auch Passanten, die über eine mindestens dreihundert Meter breite Promenade hinwegschritten.
    Neben und hinter dem Architektentisch waren große Bögen mit Stecknadeln an die Korkoberfläche der Mauer gepinnt. Ein Plan, der für Ben zuerst nur wie ein schwarzweißes Meer von Punkten und Flecken ausgesehen hatte, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als Schwarzbild des kaiserlichen Rom, auf dem die Grundmauern aller antiken Bauten, so wie sie zu Neros Zeiten ausgesehen haben mochten, eingezeichnet waren. Daneben hing ein Aufriss der Küstenmetropole, wobei die Stadt diesmal jedoch nicht von schräg oben zu sehen war, sondern streng technisch aufgeschnitten, so dass jede einzelne Wohnung in den durchteilten Hochhäusern zu erkennen war. Und in den verschiedenen Wohnungen konnte Ben, als er sich der Zeichnung näherte, sogar einzelne Möbelstücke ausmachen, einzelne Figuren, die in einer Küche am Herd standen oder in Wohnzimmern auf flachen, breiten Sofas lagen und einer Projektion an der Wand zuschauten. Aufgrund der ungeheuren Verdichtung der Stadtmasse auf engstem Raum wurde der Eindruck einer luftigen Stadt am Meer, den die Aufsicht hervorgerufen hatte, in dieser Darstellungsform jedoch von dem Eindruck eines Molochs verdrängt, eines Ungeheuers, in dem die Menschen wie Ameisen wirkten, die sich in den Schornsteinen zurechtfinden mussten, zu denen die Straßenschluchten verwachsen waren.
    Ben wandte sich ab und bemerkte, dass sich unter dem Tisch in der Mitte eine vier Meter breite Kommode befand, in die ein Dutzend flacher Schubladen eingelassen war. Er warf einen Blick in Richtung Wohnzimmer, durch das er in den Arbeitsraum gelangt war. Suchten sie ihn schon?
    Alles war ruhig.
    Vorsichtig zog er an der obersten Schublade der Kommode. Geschmeidig, wie auf geölten Rollen, glitt sie ihm entgegen. Ein Entwurf kam zum Vorschein, dessen Farbigkeit Ben nach all den schwarzweißen Zeichnungen, die er bisher gesehen hatte, fast blendete, so grell und phosphoreszierend wirkte er. Dabei behandelte das Blatt nicht mehr die riesenhaften Dimensionen eines komplett durchgestalteten Stadtpanoramas, sondern im Gegenteil die winzigen Details einer extravaganten Schmuckkollektion. Jeder Ring, jede Kette wurde in einer Größe von fast einem mal einem Meter präsentiert, und erst durch diesen Maßstab war es Götz gelungen, die beinahe mikroskopischen Einzelheiten der Stücke dem unbewaffneten Auge zu erschließen. Verblüfft sah Ben, dass in den grünen Stein des Rings nichts anderes als die Skyline der Küstenstadt hineingeritzt werden sollte. Ein Detail, das man, sähe man den Ring in seiner echten Größe, unmöglich erkennen konnte.
    Unter den Bögen der Schmuckkollektion kam ein Projekt zum Vorschein, das Ben zunächst nicht einordnen konnte, bis er im Gewirr und Geflecht der Linien ein Element ausmachte, das ihm bekannt war: die spitze Silhouette des Fernsehturms auf dem Alexanderplatz. Schon wollte er weiter durch die Entwürfe und Zeichnungen blättern, als er plötzlich so etwas wie ein Flackern am unteren Rand seines Sichtfeldes wahrnahm.
    »Haben Sie das schon gesehen?«
    Er fuhr herum. Das Flackern nahm zu, für einen Augenblick meinte Ben regelrecht zu stürzen, als hätte sich der Fußboden unter ihm aufgetan.
    »Das hier – unter Ihnen?«
    Sebastian stand am Durchgang zum weißen Wohnzimmer und deutete mit der flachen Hand auf den Boden, von dem Ben erst jetzt bemerkte, dass er es war, der flackerte. Ein Effekt, der

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