Der Architekt
stehen.
Sie muss wie erstarrt gewesen sein. Hat sie etwas gesagt? ›Papa?‹ Sie muss geweint haben und so erschüttert gewesen sein, dass sie nicht weggerannt ist. Vielleicht hat sie ›Mama‹ gerufen, wollte ihr helfen. Mit einem Satz ist er bei der Tür, packt sie am Handgelenk, erschlägt sie. Warum? Weil er ihre Stimme nicht erträgt. Weil er den Rausch, in den er geraten ist, nicht kontrollieren kann. Weil sie eine Zeugin ist. Er trägt sie in ihr Zimmer.
Und dann? Pia. Sie hat geschlafen. Er hätte sie am Leben lassen können. Stattdessen geht er auf Nummer sicher. Betritt ihr Zimmer. Sieht ihr Gesichtchen auf dem Kissen liegen. Die blonden, weichen Haare, die sich um die Stirn ringeln. Hebt die Lampe über den Kopf. Ein erwachsener Mann, der ein wehrloses, sechsjähriges Mädchen im Schlaf erschlägt.
Bens Oberkörper knickte nach vorn. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Sein Magen schien in der Bauchhöhle zu schweben. Entschlossen unterdrückte er die Szene, die ihm vor Augen stand. Er durfte nicht daran denken. Er durfte nicht an das Geräusch denken, das die Messinglampe erzeugt haben musste, als sie den Schädel des Mädchens traf. An das Keuchen des Mannes, der über ihr stand, der hineinblickte in die Wunde, die im Kopf klaffte. Durfte nicht daran denken, ob das Mädchen noch aufgewacht war, bevor es getroffen wurde. Nicht daran, was passiert war in dem bunten Kinderzimmer in jener Nacht. Welcher Dämon, welcher Gott, welcher Teufel seine Hand im Spiel gehabt hatte, als die beiden Schwestern in dieser Falte der Wirklichkeit versunken sind.
Ben stöhnte auf, erhob sich, taumelte durch das Zimmer. Das Gefühl von Schwäche und Übelkeit, das ihn noch während der Unterredung mit Götz beschlichen hatte, verschärfte sich. Er fiel zurück auf das Sofa, die Arme schlaff rechts und links von sich.
Lillian Behringer …
Lag es nicht auf der Hand, dass Götz es gewesen war? Nur deshalb hatte Richter Hohlbeck doch beschlossen, das Hauptverfahren gegen ihn zu eröffnen. Weil er davon überzeugt war, dass die Staatsanwaltschaft hinreichend Belege für eine Verurteilung des Angeklagten beisammen hatte. Es ging in dem Prozess doch gar nicht mehr darum, zu ergründen,
ob
Götz es gewesen war. Sondern darum, zu beweisen,
dass
er der Täter war!
Ben atmete aus. Und jetzt benutzte Götz ihn, Ben, um das Gegenteil plausibel zu machen! Um eine schlüssige Beschreibung der Zusammenhänge zu konstruieren, die besagen sollte, dass er
nicht
der Täter war. Ein in sich stimmiges Lügengebäude. Er benutzte ihn, um seine Lügen zu perfektionieren. Nicht er, Ben, benutzte Götz, sondern umgekehrt,
er wurde von Götz benutzt.
Manipuliert. Gesteuert.
Ben setzte sich etwas aufrechter hin, spürte, wie ihm der Ärger darüber, dass er sich möglicherweise von Götz hatte hereinlegen lassen, wieder Kraft gab. Wollte er das wirklich zulassen? Musste er tatenlos mit ansehen, was Götz mit ihm vorhatte und umsetzte? Nein! Musste er nicht! Er war frei in dem, was er schrieb! Er war doch nicht verpflichtet, seinen Text vorzulegen. Das stand in keinem Vertrag.
Er
konnte entscheiden, wie er die Fakten und Ereignisse darstellte und wiedergab. Da konnte Götz ihm nicht reinreden. Er, Ben, war der Herr des Textes! Götz konnte versuchen, ihn vor seinen Karren zu spannen. Aber er, Ben, konnte dem widerstehen.
Ja, er konnte es sogar noch geschickter machen! Würde Götz nicht seine Mitarbeit aufkündigen, wenn er mitbekam, dass Ben angefangen hatte, an seiner Unschuld zu zweifeln? Natürlich würde er das! Was für Götz das Ziel ihrer Zusammenarbeit war – dass Ben seine Lügen untermauerte –, musste sich ja in nichts auflösen, wenn Ben ihn für schuldig hielt. Aber er, Ben, brauchte Götz schließlich nicht zu sagen, was er dachte! Wen er für schuldig hielt und wen nicht! Gleichzeitig konnte er in seinem Buch, ganz wie er es für richtig hielt, Götz sehr wohl als den Schuldigen darstellen, wenn er davon wirklich überzeugt war.
Wenn er aber – und als Ben sich das klarmachte, durchrieselte es ihn kalt – in seinem Buch tatsächlich zu dem Schluss kommen sollte, dass Götz der Täter war, würde er diese Einschätzung für alle Zeit zementieren. Ohne sein Buch würde auch bei einer Verurteilung immer der Schimmer eines Zweifels bleiben, ob Götz nicht vielleicht doch
unschuldig
verurteilt worden war. Gäbe es jedoch sein, Bens, Buch, bei dem Götz ja
mitgearbeitet
hätte, und käme das Buch mit dieser
Weitere Kostenlose Bücher