Der Atem der Welt
es!«
»Pscht!«
Sie tröpfelten Wasser auf seine Lippen, gossen es ihm zwischen die Kiefer. Seine Zunge schoss heraus. »Mama«, krächzte er, »Mama . . .«, dann ein Schwall von Worten, ein erneuter Ausbruch von rosigem Schweiß auf der Haut, eine plötzliche, schreckliche Hellsichtigkeit in seinen Augen.
»Alles gut«, sagte Simon und wischte ihn mit dem Lappen ab, »bald ist es besser.«
Aber Dag wusste Bescheid, und er packte Simon beim Handgelenk.
»Alles gut«, sagte Simon, »leg dich jetzt hin.«
Welch ein Tag, der Tag, als Dag starb. Er wollte nicht liegen bleiben. Hoch und runter, wie ein Springteufel. Seine Stimme kam und ging, manchmal verstummte sie eine geschlagene Stunde lang, und man dachte schon, es sei vorbei, aber nein, dann kroch sein grausiger Atem wieder in die Welt, wie Klauen, die einen Halt suchten. Auch Skip fing an durchzudrehen, er flennte beleidigt wie ein großes, dummes Kind, schrie hin und wieder irgendetwas von einem Ding, das neben uns auf dem
Wasser lief, etwas mit Hufen, wie eine Ziege, ein Mann und ein Fisch in einem. Er behauptete, es grinse und verfolge uns. Aber wir waren alle auf unsere jeweilige Weise verrückt, wie wir da so hilflos saßen, und immer noch glitzerte das Meer, überall und in alle Ewigkeit, und nirgends ein Segel oder eine Insel oder ein Felsen oder auch nur ein Vogel. Irgendwann am Nachmittag wurde Dags Stimme eigenartig. Zwar verstanden wir sowieso kein bisschen von dem, was er sagte, aber immerhin hatte seine Sprache etwas Menschliches gehabt, aber jetzt verwandelte er sich in den Minotaurus der Sage, verdrehte die Augen und bellte wie ein Ochse, der zur Schlachtbank getrieben wird. Er schiss sich voll. Dann geschah etwas Schreckliches, das Bild hat sich mir unauslöschlich eingebrannt, in die Augen und in alles, was ich bin. Er lehnte am Dollbord. Simon hatte ihm gerade das Gesicht abgewischt, und der Kapitän tauchte den Lappen wieder ins Meer. Dags Augen waren aufgerissen und blickten so gebannt hinaus in die Welt, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Und plötzlich stürzte Blut aus seiner Nase, dann mehr, eine gewaltige Flut aus Augen, Mund, Ohren. Als verließe ihn sämtliches Blut, das in ihm war, über sein Gesicht. Der Kopf fiel ihm auf die Brust, und es war vorbei.
Ob es der blutige Horror daran war, weiß ich nicht, aber sein Tod verstörte mich mehr als all die anderen, mehr, als ich sagen kann. Ich erlebte ihn so, wie man in seinen schlimmsten Albträumen einen Dämon erlebt. Aber ich wachte nicht auf. Ich bedeckte meine Augen und drückte sie fest zu, und mir war übel. Meine Augen brannten, weil ich gern geweint hätte, aber sie konnten nicht. Es war nichts in ihnen. Nichts übrig. Meine Knochen rieben sich aneinander und an den Planken unter ihnen. Tims gute alte Hand war noch in meiner, aber jetzt waren diese Hände elende Dinger, braune, miteinander verbundene spindeldürre Stöcke. Die Muskeln in den Handflächen zuckten.
Der Kapitän sagt: » Los, machen wir uns an die Arbeit, wir wissen, was zu tun ist « . . .
»Das ist ungerecht«, sagte Simon, »wieso müssen wir das immer machen, nur weil es immer auf unserem Boot passiert? Einer von denen könnte es zur Abwechslung auch mal machen.«
Oh Gott, nicht ich.
»Nächstes Mal«, versprach der Kapitän.
Du kannst die Augen schließen, aber hören musst du es trotzdem.
»Dan«, sagte ich, »wie bringt man sich am besten um?«
»Man erschießt sich«, antwortete er auf der Stelle.
»Würdest du mir die Pistole geben, wenn ich sie haben wollte?«
Er sah mich lange an. »Würde ich das? Das ist die Frage. Ich weiß es nicht, Jaff.«
Ich konnte Blut riechen, der Wind trug es herüber.
Hier kam der Becher, und ich trank.
»Trinket alle davon«, sagte Dan, als er an der Reihe war, und hob seinen Becher, als wäre es ein Kelch, »denn dies ist mein Blut, das für euch vergossen wurde . . .«
Wir hatten Tage mit Fleisch und dann Tage ohne Fleisch und dann noch mehr Tage ohne Fleisch. Am Himmel kündigte sich eine Änderung an. Die Sonne wurde blasser, und ein kühler Hauch lag in der Luft. Wolken türmten sich in jeder Ecke des Himmels, und Regen fiel als sanfter blaugrauer Schleier weit weg im Osten. Der Osten: die Küsten der beiden Amerikas. Die amerikanischen Matrosen haben ein Lied, und das geht so: Sag, warst du je in Rio Grande, bei den süßen Señoritas, die schön sind wie die Sonne . . ., schwarzhaarige, vollbusige junge Frauen, die müde
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