Der Aufgang Des Abendlandes
allbeherrschende Liebe zu Gott, durch welche allein wir zur sonst unnatürlichen
Nächstenliebe gelangen, wirklich die Seele erfüllen könne. Die Möglichkeit sehen wir bereits bei
christlichen Mystikern und erleuchteten Indern, also muß jeder, sobald er gleichen geistigen und ethischen Grad
erreichte, in sich die gleiche begeisterte Liebe zu Gott finden. Gewiß tritt Erleuchtung als ekstatischer Zustand auf,
der dumpfes Verstandesbewußtsein weit hinter sich läßt, doch Dichterseher reden hier zu ausschließlich
vom Gefühl: »Für mich sind hohe Berge ein Gefühl« (Byron) »Gefühl ist alles«
(Goethe). Nein, es ist nicht alles. »Gefühl gehört der Erde an, doch betrachtende Vernunft steht
außerhalb der Gefühle« (Leonardo). Wohl »Name ist Schall und Rauch«, aber die
Einschränkung: wer darf bekennen, ich glaub' Ihn oder ich glaub' Ihn nicht! bezeichnet Fausts mangelhafte Erkenntnis,
denn die wahre wird wagen zu sagen, ich kenne Ihn. Und zwar braucht man dazu nur ins eigene Leben zu schauen und das der
Nächststehenden zu prüfen, denn dort drängt sich dem Nachdenkenden förmlich greifbar eine
übernatürliche Gerechtigkeit auf, die freilich nie mit schwächlicher Affenliebe unartige Kinder verzieht und
ihnen gebratene Tauben aus Schlaraffenland ins Maul schiebt, doch bei aller Strenge der Erziehung väterliche
Freundlichkeit bewährt, erfinderisch im Herbeiführen nützlicher Kausalwendungen, günstig und
ungünstig wie es gerade für ein Individuum paßt. Daß allzeit auch der schlichteste Volksverstand die
Gesetzmäßigkeit individuellen Erlebens ahnte, zeigt die bei vielen Völkern verbreitete Parabel: daß
Christus jedem Sterblichen freistellt, sein Kreuz abzuwerfen und sich ein anderes, bequemeres zu wählen, und dann jeder
unter den zahllosen Kreuzen wieder sein eigenes heraussucht.
»O göttliche Notwendigkeit, du zwingst alle deine Wirkungen, auf kürzestem Wege deinen Ursachen zu
folgen!« (Leonardo).
Tatsächlich gibt es keine Geschichte der Menschheit, sondern nur der unzählbaren einzelnen, und würden
zahlreiche Autobiographien nebeneinander geschrieben, so würde jeder Klarsehende hier auf Schritt und Tritt Stoff
für Beweise einer Vorbestimmung entdecken, die sich als persönliche Vorsehung dem einzelnen vermittelt. Selbst die
uralte Vorstellung vom guten und bösen Engel ist nicht von der Hand zu weisen, in einem gewissen unerklärbaren
Sinne wird jedes Wesen in Spaltung des Doppel-Ich von einem guten und bösen Prinzip überwacht. (Womit
natürlich nicht dem dualistischen Prinzip von Lotze dem Jüngeren das Wort geredet werden soll, »Gott«
und »Teufel« sind nicht zu trennen). Erkennt nun der Mensch – und das tat er seit ältesten Zeiten
–, daß jede Hiobprüfung vorbedacht, äußeres oder inneres Verderben fast immer verdiente
Vergeltung, Leben nicht der Güter höchstes, Schuld das wahre Übel sei, so dämmert ihm die Ahnung
unermeßlicher Weisheit. Aus anstaunender Verehrung wird aber überströmende Liebe, sobald er sich bewußt
wird, wie allwissende Allmacht sich herabläßt, ihre Allgerechtigkeit auf jeden Erdenwurm zu übertragen und
diese ewige Sonne ewig über unserm Staub leuchten zu lassen. Solche vorausgesetzte Allgüte ruft dann wirklich die
Vorstellung eines »himmlischen Vaters« hervor, auf dessen Schutz man im Leben und Tod vertrauen dürfe.
Daß sich gegen so frommen Optimismus das Weltleid empört, ihm oft den Schein des Weltbilds verdunkelt und der
menschlichen Schwäche oft bittere Zweifel aufdrängt, geht uns hier nichts an, denn jedenfalls war dies allzeit der
Weg zur Gottliebe. Anbetende Dankbarkeit verwandelt sich in unbegrenzte Begeisterung für dies höchste Wesen. Um
seiner würdig zu werden, seine Liebe zu verdienen, wirft man altruistischen Blick auf den Nächsten, und der
christliche Satz »Ihr sollt euch untereinander lieben, weil Gott euch geliebt hat« erhält den Zusatz: und
weil ihr Gott liebt. Musset schließt seine Rhapsodie »Hoffnung auf Gott«, daß Name und Ruhm
untergehen, die Seele sich nur noch ihrer Liebe erinnert. Metaphysik der Liebe (nicht im ironischen Sinne Schopenhauers)
sucht in Ergänzung die Einheit, ist also eine dumpfe ichbeschränkte, aber instinktiv natürliche Vorstufe der
Sehnsucht nach Einheit mit dem Allgott, der höchsten Liebesseligkeit. Nur unter dieser Voraussetzung ist Menschenliebe
möglich und vernünftig, nur Liebe zu Gott, d.h. dem einzigen Liebenswerten kann je
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