Der Aufgang Des Abendlandes
verschiedene Daseinsbedingung demokratisch zu verwischen –, doch erst recht
nicht den Hochmut. Denn alles steht in psychischer Wechselwirkung, und mag der Einzelne sich noch so stolz von der Masse
absondern, allgemeinen kosmischen Einflüssen entrinnt er nicht, die ihn umspülen. Was wir Leben und Materie nennen,
scheint kein natürlicher, sondern sehr okkulter Akt. Wer über Wunder Christi staunt, sollte eher über
Genietaten staunen und das Staunen damit beginnen, daß aus bebrüteten Eiern lebendige Küchlein
herausschlüpfen wie beim Zauberkunststück eines Taschenspielers, dem Küchlein aus einem leeren Hut flattern.
Geschwindigkeit ist keine Hexerei, doch organisches Leben durch bloßen Zeugungsakt – warum glückt er denn
nicht immer, warum gibt es Unfruchtbarkeit? – ist wirklich Hexerei. Gab es je ein Urei als Lebenskeim, wo kam es her?
Irgendwo muß es doch gelegt, irgendwer es befruchtet haben. Darüber mit ein paar Wärmehypothesen
wegzuhüpfen, ist konventionelle Phraseologie. Jenes Sichtbarwerden für subjektive Wahrnehmung verrät ein
unsichtbares Vermögen vor dem gottlob Gottlieb Schulze nicht schaudert, sonst könnte er sein Leben nicht
lebenslustig leben. Wer aber dies rätselhafte Leben verneint, ist im Grunde ein Frechling, denn außer Sichtbarem,
was er ungenügend kennt, will er Unsichtbares verneinen, was er überhaupt nicht kennt. –
Unterscheidet sich Buddhismus ganz von der Vedanta, womit ihn Indologen und Philosophen oft verwechseln, oft aber auch sie
mehr trennen als geboten? Ja und nein. Buddhas demokratische Propaganda gegen die Wahrheitspachtung der Brahminenkaste und
die Selbstheiligkeit der Asketen gleicht derjenigen Jesu gegen die Gesetzesheiligen, doch sein Ausstreichen der vedantischen
Seele als eines wechselnden Werdens statt eines festen Seins mündet zuletzt im gleichen reinen Transzendentalismus, weit
entfernt vom Trugschluß moderner Psychologen, als ob mit Entlarvung des Ich die Psyche selber angetastet würde.
Mühevolle Durcharbeitung der Reden Gotamos, die mit späterer Ausbildung buddhistischer Scholastik so wenig gemein
haben wie Jesu Reden mit den Kirchenvätern, schenkt da alleine Aufschlüsse. Sein Johannes, Lieblingsjünger
Sariputo, spendet »Pfeiler der Einsicht«, wie man beim »äußern und innern Körper«
über den Körper, beim »äußern und innern Gefühl« über das Gefühl wachen soll,
über die subjektiv-objektiven Organe der Erscheinung und des begehrlichen Gemüts. Vier Arten des Lebenstriebs:
Geschlechtlichkeit, Vielwisserei, Askese als Selbstzweck, persönliche Fortdauer. Gefühl, Wahrnehmung, Begreifen,
Aufmerken erzeugen die Erscheinung, deren Form weiter bestimmt wird durch Bewußtsein, Unterscheidung (körperliche,
sprachliche, geistige) Nichtwissen (Wahnentstehung), Wahn (Wunsch, Dasein, Nichtwissen). Dies alles, entstanden durch
Lebenslust, Gefühl, Berührung, Sechssinnensitz (Gehirnleben vom Seh- bis Denksinn), ist das
»Subjektiv-Objektive«. Dieser Begriff, der ins Herz der Dinge trifft, scheint Buddhas größte Tat. Doch
wenn das »Buch des Löwenrufs« lehrt, dem Dasein Zugetane werden verstimmt durch Ansicht des Nichtseins, dem
Nichtsein Zugeneigte durch Dasein, beides müsse aber gleichzeitig überwunden werden, so fehlt die
wünschenswerte Logik, daß Sein und Nichtsein gleichwertig. »Wer hier Entstehung aus Ursachen merkt, merkt
die Wahrheit; wer die Wahrheit merkt, merkt die Entstehung aus Ursachen«? Dies Kausalitätsdogma paßt
für alles Sichtbare, nicht aber zur Lehre vom ungebrochenen innern Gefühl, »ohne daß äußere
Formen in den Gesichtskreis treten«. Wer Form-Reflex-Vielheitwahrnehmung aufhebt, gewinnt dadurch grenzenlosen Raum,
dann grenzenloses Bewußtsein, damit Auflösung der Wahrnehmbarkeit? Das nennt er Nichtseinssphäre, und doch
»blickt der Chela mit dem himmlischen Auge, dem verklärten überirdischen, über tausend Welten
hin«? Im Gleichnis vom Rinderhirten an der Gangesfurt wird ausdrücklich unterschieden zwischen dies- und
jenseitiger Welt, Reich der Natur und Reich der Freiheit. Eine Hauptrede unterstreicht: »Die Unsterblichkeit ist
gewonnen.« Das heiße die Zeitlichkeit verstehen und das sichere Tor zur Ewigkeit auftun. Da alle Inder die
Reinkarnation als selbstverständlich annehmen, ist Buddhas Verwerfung persönlicher Fortdauer nur so zu verstehen,
daß Nichtmehrsein irgendwelchen Ichs Nirwanaglück bedeutet. Genau gleiches lehren die deutschen Mystiker.
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