Der Aufgang Des Abendlandes
weniger über viele oder, im Bolschewistenideal, vieler über wenige. Hier sind nur äußerlich die
»tables turned«, wie man im Englischen unübersetzbar sagt: Die Vereinung zu gemeinsamen Zweck, welche auch
Nietzsches Verbrecherhelden brauchen, wird dann mörderische Übermacht der Schwachen gegenüber dem individuell
Starken. All dies Gekreisch über Heiligkeit der Ichwut und Verächtlichkeit der Ethik ist praktisch leeres
Strohdreschen, denn die Menschheit hat vom Urbiest bis zum Plutokraten und Bolschewisten immer nach Nietzsches
Grundsätzen gehandelt und sich dafür selbst bestraft. Wenn der unselige Romantiker den Kampf selber für das
Lobenswerte erklärt (nicht gute Sache heilige den Krieg, sondern guter Krieg die Sache), so fand diese pseudoheroische
Weltanschauung längst in Giordanos wirklichen Eroici Furori bessern Ausdruck. Oder wenn wir als letzten Bodensatz dieses
Mit-dem-Hammer-Philosophierens den Wahlspruch hören »Es lebe das Leben!«, so wissen wir ja, in welch
banausischem Sinne ein literarischer Vielzuvieler oder die blöde Menge dies auslegen. Ja freilich lebe das ewige Leben,
das wirklich seinen Zweck in sich selber trägt durch transzendentale Karmakausalität! Jeder Pessimismus dem
Lebensprinzip gegenüber bleibt eine Unverschämtheit des Ichs, Leben ist das höchste Gut und will als solches
genossen werden – aber nur, sobald es sich auf sein wahres Prinzip besinnt, daß Selbst und All, Leben und
Unendlichkeit das nämliche, daß seine Basis nichts anderes ist als Gott selber. Schwante Nietzsche so etwas in
lichten Augenblicken, wenn er die ewige Wiederkehr des Gleichen pries?
Der Freidenker Foote rühmt den übergeistreichen Romandichter Meredith als Gesinnungsgenossen, denn dieser
bestritt persönliche Fortdauer, weil er in sich sechs verschiedene Menschen fühle, die doch nicht alle
gleichmäßig fortdauern könnten. Der Scherz überrascht durch die Gedankenlosigkeit solcher vom Geiste
Freien. Sechs Ich, nicht bloß Doppel-Ich, allzuviel ist ungesund! Doppel-Ich, wenn wirklich dies Phänomen in
morbidem Hirnboden vorkommt, ist auch nur Täuschung. Denn Desorganisierung der Zellenrepublik könnte wohl solche
zeitliche Spaltung herbeiführen, aber das Ich bleibt in beiden widersprechenden Zuständen, solange sie dauern,
innerhalb der verschiedenen Eindrücke doch wieder vollkommen einheitlich. Darüber hinaus ist die Behauptung,
daß Kind, Jüngling, Mann, Greis vier verschiedene Formen des Individuums seien, gründlich falsch. Wordsworths
Vers »Das Kind ist Vater für den Mann« spricht die Einheit der Lebensprozesse aus, bleibt aber auch noch
unklar, denn das Kind ist einfach schon der Mann, und der Mann bleibt wesentlich wie das Kind, nur sein Milieu änderte
sich. Natürlich vermehrten sich Wissen und Erfahrung des Greises über das Kind hinaus, doch sets nur im relativ
gleichen Tempo intellektuell und charakterologisch. Der Knabe Napoleon war ein verblüffend ähnliches Miniaturbild
des Gefangenen von St. Helena. Nur verblendete Täuschung durch Äußerlichkeiten leugnet
Unveränderlichkeit der Individualpsyche. Wäre aber Merediths unsinnige Prämisse wahr, so bewiese es
höchstens die Verwandlungsfähigkeit des Ichs und gar nichts gegen die Fortdauer der Seelenelektronen. Er meint
offenbar solche persönliche Fortdauer, wie die Kirche widersinnig lehrt (ohne dabei irgendwie ans transzendentale Ego zu
denken). Immer wieder Verwechslung atavistischen Kirchenglaubens mit Erkenntnisglauben an den wahren Gott und die wahre
Unsterblichkeit. So begriffsstutzig denken selbst begabte Leute.
Leonardo sagt (wir zitieren nach englischer Ausgabe von Richters Studie über seine Malerei): »Geist hat keine
Stimme, denn wo Kraft, da ist Körper und wo Körper, da ist Raumausfüllung. Wo nicht Bewegung, ist keine
Stimme, keine Bußprozession ohne Instrument, kein Instrument ohne Substanz. Der Geist hat weder Stimme noch Form noch
Kraft. Wo nicht Nerven und Kräfte sind, kann der Geist, wie wir ihn uns vorstellen, keine bewegende Macht haben.«
Der Materialist liest hier sein Credo von Nichtexistenz des Geistes, genau das Gegenteil ist gemeint: Der
»Geist«, das heißt das spirituelle Prinzip, steht abseits der Materie, die nur durch Materialisierung ihre
Macht übt, er ist das Wortlose, Stofflose, Unbewußte. Aber gab nicht Leonardo, der sogar Totenmessen für sich
testamentarisch anordnete, weil er dies mystisch und symbolisch auffaßte, Anlaß zu
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