Der Augenblick des Magiers
heruntergerutscht, oder man hatte ihn fallenlassen. Erneutes emsiges Treiben um ihn herum, doch seine Ursache konnte er nicht sinnlich wahrnehmen. Durch das Gift des Ruze begann sich sein Blick zu trüben. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er trotz aller gegenteiligen Anstrengungen doch in Schlaf fallen würde.
Als er emporstarrte, meinte er eine riesige dunkle Gestalt zu erkennen, die auf ihn zukam. Sie verdeckte das Licht der Sonne. Einen Augenblick lang schien sie dicht oberhalb der Kuppelspitze zu schweben, dann löste sich die Kuppel auf. Es war kein Zerbrechen oder Zersplittern wie bei Glas, die Kuppel implodierte einfach.
Explosiv eindringende Wassermassen ließen seinen Sarg ins Wirbeln geraten, ebenso die Leiber seiner Peiniger. Bei seiner verzerrten optischen Wahrnehmung war es ihm unmöglich festzustellen, in welche Richtung er gerade stürzte.
Er war allein, ein Kieselsteinchen in einer Flasche, eine winzige menschliche Murmel, die zwischen Boden und Wand hin und her geschleudert wurde. Irgend etwas hatte die Kuppel zertrümmert. Soviel war sicher. Er wollte aufschreien, als das Wasser in kreisförmigen Bahnen herumwirbelte, doch Zunge und Stimmbänder waren inzwischen gelähmt. Aber es machte ohnehin keinen Unterschied mehr. Es war ja niemand da, der ihn hätte hören können.
Die Wand brach zusammen, und die wirbelnde Strömung ließ ihn aus der zerklüfteten Öffnung hinausschießen. Die wütenden Fluten beruhigten sich. Außerhalb der zerstörten Kuppelruine war es friedlich, obwohl aufgewühltes Sediment das klare Wasser des Sees trübte. Oder war diese Dunkelheit nur eine Geistestäuschung?
Nun schien es ihm, als würde er, sich immer noch unentwegt überschlagend, den Abhang des Unterwasserhügels hinabstürzen, auf dem sein Gefängnis stand. Durch den Wasserwiderstand und die Luft in seinem Sarg wurde der Fall gebremst. Schon begann die Luft verbraucht zu riechen. Als ihm schließlich die Sinne zu schwinden begannen, kam ihm der Verdacht, daß dies nicht auf die Spritze zurückzuführen war, die man ihm verabreicht hatte, sondern auf Sauerstoffmangel.
Auf betäubte Weise war er entzückt: Nun würde er nicht mehr die wiederholten Besuche des Ruze über sich ergehen lassen müssen, und auch nicht die langsame und schmerzvolle Zerstückelung im fernen Cugluch. Er würde sterben, hier und jetzt. Hätte seine Lähmung es zugelassen, er hätte gelächelt. Die Gepanzerten würden um ihre zeremonielle Rache geprellt werden.
Dann suchte ihn die Dunkelheit heim, und er hieß sie willkommen.
XII
Nach einer ganzen Ewigkeit schien es ihm, als würde die Temperatur um ihn herum ansteigen. Was im Tod vielleicht nicht sonderlich überraschend sein mochte, doch erstaunte es ihn, daß er die Veränderung spüren konnte.
Er versuchte die Augen zu öffnen. Die Muskeln protestierten. Es war, als sei er nicht völlig tot. Es prickelte ihn am ganzen Leib, ein fürchterliches Gefühl.
Da seine Augen nicht funktionieren wollten, versuchte er statt dessen, die Lippen zu bewegen. Die gehorchten zwar, aber nur in Spasmen. Er zwang sie, sich zu öffnen. Er brauchte unbedingt etwas frische Luft.
Als ihm die komplizierte Bewegungsfolge endlich gelang, versuchte er zu schreien. Die Luft rutschte seine Kehle hinab in die Lunge wie ein Klumpen roher Leber. Der nächste Atemzug war allerdings schon leichter. Lange vernachlässigte Drüsen schütteten Speichel aus, und das vereinfachte die Sache noch mehr.
Möglicherweise war er gar nicht tot. Er diskutierte mit dem Rest seines Körpers darüber, der jedoch darauf beharte, daß er es doch sei. Er war ertrunken oder erstickt oder beides; auf jeden Fall war er nicht am Leben.
Beweisstück Nummer eins für die Verteidigung: Er konnte atmen. Die Argumentation der Anklage geriet ins Stocken, und dann hatte sie den Prozeß mit ihrer Behauptung seines Ablebens auch schon mit Pauken und Trompeten verloren. Es ging doch nichts darüber, im kritischen Augenblick ein unerwartetes Beweismittel vorzubringen, überlegte er. Allerdings mußte er dem hohen Gericht nun beweisen, daß er auch bewußtseinsfähig war.
Erster Zeuge der Verteidigung, in den Zeugenstand, bitte. Ich rufe auf... die Sehfähigkeit! öffnen Sie ein Augenlid und schwören Sie bei Ihrem optischen Nerv. Schwören Sie zu sehen, zu schauen und wahrzunehmen und ein Bild von der Welt aufzunehmen, die diesen nicht gänzlich toten Leichnam umgibt? Ich schwöre es.
Jemand starrte auf ihn herab, ein zottiger Mond
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