Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
wissen will. Auch die Kinder werden ja nicht informiert. Es ist ein ganz großes Versäumnis! Es kann jeden jederzeit treffen. Daß der Tod erst im Alter irgendwann kommt, ist eine der großen Lebenslügen. Es sterben Kinder, es sterben Leute in meinem Alter, Brustkrebs ist ein großes Thema, Jugendliche nehmen sich das Leben, geliebte Partner haben Aids oder einen Unfall usw.
Ich höre oft, der oder die sei vollkommen überfordert. Als meine Freundin an Krebs erkrankte, sind 50 Prozent der Freunde weggeblieben. Sie waren so überfordert, sie wissen gar nicht, wie sie jemand begegnen sollen, dem die Haare ausfallen, der so schlecht drauf ist. Also, diese Leute fühlen sich nicht überfordert, sie fühlen sich gefordert. Da weichen sie aus, dazu sind sie zu faul. Bestenfalls sind sie auch noch ängstlich. Aber wir sind dazu in der Lage, den Freund oder die Freundin, die Mutter bei der Krankheit und ins Sterben zu begleiten. Menschen können so was! Es ist eben so, wir sind eine blöde, bequeme und versicherte Gesellschaft, die sich nicht mit dem Tod beschäftigen will. Aber der Tod beschäftigt sich natürlich mit uns. Er ist ja eines der wichtigsten Naturereignisse, auch eigentlich ein Naturspektakel, dramatisch, der geschwisterliche Teil der Geburt. Es gibt keinen Grund, ihn zu verschweigen, und es hat auch gar keinen Sinn.
Jetzt, wo ich langsam älter werde, sehe ich das Ausmaß der Ignoranz, und ich dachte, ich muß vielleicht anfangen, meiner Nachgeneration was zu erzählen, die 15-, 16-, 17-Jährigen aufklären. Also habe ich beschlossen, in die Schulen zu gehen. Ob ich Angst habe oder nicht, ist da zweitrangig. Es ist meine Pflicht! Ich habe dann eine Aktion gestartet, im Rahmen von Religions- und Ethikunterricht. Und es ging besser, als erwartet. Auf die Frage, wer schon mal einen Sterbefall in seiner näheren Umgebung hatte, hat fast die Hälfte der Klasse den Arm gehoben. So heil ist also die Welt auch hier schon gar nicht mehr. Und in den seltensten Fällen wird in den Familien darüber geredet mit den Kindern, es gibt keine Aufklärung, im Gegenteil, es wird alles verschwiegen. Ich weiß das sehr gut aus meiner eigenen Familie. Als meine Mutter eben sehr früh starb, da haben meine Schwester und ich einem schwarzen Wagen hinterhergeguckt. Keiner hat gesagt, wohin meine Mutter kommt, warum, wieso. Es sind nur Andeutungen gefallen. Meine Mutter kam in die Gerichtsmedizin, sie war ja ein Suizidfall. Dann kommen immer die Polizei und die Gerichtsmedizin. Und ich habe natürlich überlegt, was geschieht dort, wer hat sie ausgezogen, wer untersucht, waren das nette Menschen, oder waren das Fleischer, haben sie Witzchen gemacht? Ich hatte ja keine Bilder.
Das waren für mich schreckliche Gedanken. Das fand ich viel schlimmer eigentlich noch. Nicht daß sie tot war, weil ich wußte, irgendwie hat sie es jetzt auch gut, das spürt man einfach so ein bißchen, als christlich verwurzelter Mensch. Ich hätte gerne gewußt, weshalb sie sich das Leben nahm, aber meine Oma hat es abgelehnt, darüber mit mir zu reden. Sie sagte nur, das bringt nichts, es würde nichts ändern, wir müssen jetzt nach vorne schauen. Aber ich war immer diejenige, die nach hinten geschaut hat. Schweigen und ignorieren, das ist für mich das Schlimmste. Und ich sehe, daß die Kinder drüber reden wollen. Erst mal sind sie cool, die sehen im Fernsehen Sendungen wie ›Autopsie‹. Da werden Kinder exhumiert, die sehen Internetseiten, wo man zerstückelte Leichen betrachten kann. Die haben schon einiges gesehen, aber eben nicht wirklich, keinerlei Erfahrung damit gemacht. Einer sagte, gut, wir haben jetzt viel vom Tod geredet, die Särge gesehen, haben Sie auch ein Foto von einem wirklichen Toten? Ich erkläre, daß ich, selbst wenn ich eins hätte, es nicht zeigen würde. Hättest du selbst es denn gern, wenn man das Foto deiner toten Mutter hier der ganzen Klasse herzeigt? Dann merken sie, oh, das ist jetzt nicht das Fernsehen, da gibt es was, das noch heilig ist. Das finde ich wichtig. Ich sage immer: Versucht mal, in der Ich-Form zu reden. Dann fällt es natürlich schon viel schwerer.
Bei den Erwachsenen ist das nicht so leicht. Die Leute wollen zwar nicht alt werden, aber alt sterben. Und bei Paaren höre ich oft: Ich aber zuerst, sonst muß ich zu sehr leiden, ich möchte nicht übrigbleiben. Also, das ist die faule Gesellschaft. Ist so! Ich erlebe es auch immer wieder, daß Leute sagen, also, ich hab’ mit deinem Beruf kein
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