Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Kunden begrüße in weißer Bluse und Jeans, dann gibt es da kaum Irritationen, ich begrüße ja die Lebenden. Aber meine Fahrer, die fahren ja die Verstorbenen. Und ich würde das auch nicht schätzen, wenn einer im Karohemd und mit Jeansjacke käme und sagte: Begrüße Sie, Firma Marschner! Ich bereite meine Fahrer natürlich auch darauf vor, wie sie mit Emotionen umgehen. Eine ältere Frau hat mal meinem Lieblingsfahrer ein blaues Auge gehauen. Sie war außer sich, weil’s der Moment des ›Wegnehmens‹ war, ihr Mann wurde rausgetragen. Und da ist dann der Fahrer stehengeblieben wie ein Baum! Auf meine Leute muß ich mich voll verlassen können.
Ich selbst beschäftige mich ja vorwiegend mit den Lebenden hier, und da ist mein eigentliches Thema der Abschied . Während der Leichnam im Kühlraum liegt, können z. B. Eltern, Freunde, Kinder hier im Laden gemeinsam den Sarg für den verstorbenen Menschen bemalen, wenn sie wollen, als letztes Geschenk, und sich dabei unterhalten, weinen, lachen, die Lieblingsmusik des Toten hören, Kaffee trinken, rauchen. Hier herrscht keine verlogene Pietät, ich täusche nichts vor mit Leichenbittermine, ich helfe dem Kunden dabei – denn hier begegnen sich ja Kaufmann und Kunde –, daß er sich nicht alles aus den Händen nehmen läßt. Daß sie den Toten, und den Tod als solchen, in ihr Leben mit einbeziehen können, trauern können. Bei mir ist jede Beerdigung ganz individuell, und ich reiße eben nicht, wie üblich, die gesamte Organisation an mich. Im Gegenteil, ich ermuntere den Angehörigen, die Trauerrede selbst zu halten, das Musizieren, die Blumen usw., das alles, da laß ich total los. Wer’s aber möchte, für den organisiere ich natürlich die gesamte Gestaltung, das mache ich in vielen Fällen auch. Deshalb fällt eben immer wieder das Wort ›Event-Managerin‹. Ich habe ja mal zwei Jahre bei einem ganz konventionellen, dunklen Bestatter gesessen. Alles ging nach Schema F. Das war wichtig und heilsam für mich. Ich wollte es anders machen, und das Konzept ist aufgegangen. Meine Kunden sind meist aus dem Mittelstand. Im Prinzip kommen alle Altersklassen vor, vom Greis bis zum Kind oder auch vom Sozialbegräbnis bis zum Akademiker. Die Leute brauchen einfach adäquate Trauerzeremonien, und dafür sorge ich, daß sie die bekommen.«
Sie steht auf, um in der kleinen Büro-Küche nebenan noch einen Kaffee zu machen. Der Hund blinzelt uns verschlafen an. Er weiß anscheinend, daß wir nicht leidtragend sind. Es dämmert bereits. Nebenan sind die Leuchtzeichen der Urnen angegangen. Die verblendeten Wandlampen tauchen die Räume in ein zartes, warmes Licht. Frau Marschner, die das alles geschaffen hat und dabei selbst einen überraschend harten Eindruck macht, reicht uns schwarzen Kaffee, zündet sich eine Zigarette an und ist bereit, noch etwas von sich zu erzählen. Aus ihrem sehr offenen und persönlichen Buch weiß ich, daß sie sozusagen in Drachenblut gebadet wurde – und daß sie einen tätowierten Drachen auf dem Rücken hat.
»Also, ich mußte meine eigene Geschichte erzählen, weil sie ja viel zu tun hat mit diesem Bestattungsinstitut. Es war sozusagen das Erbe meiner Mutter, daß ich mich an dieses Thema rantraute. Ich habe es ja vorhin schon erwähnt, daß sie sich umgebracht hat. Für mich war es einfach so, daß ich auf dem Heimweg von der Schule vom Tod meiner Mutter erfuhr, mitten auf der Turmstraße. Eine Nachbarin war gradezu erfreut, mir als Erste diese Nachricht überbringen zu können. Ich konnte das natürlich gar nicht glauben. In meinem Zimmer hing ein Stück rote Wäscheleine an der Leiter zu meinem Hochbett. Meine Mutter war einfach in mein Zimmer gegangen und hatte sich an dieser Leiter erhängt. Es war nur ein einfacher Knoten in der Wäscheleine. Das Ersticken muß lang gedauert haben. Sie hat eine einzige Zeile hinterlassen: ›Ich kann nicht mehr.‹ Und meine Oma hat dann einen ganz großen Fehler gemacht. Sie entschied sich für eine Feuerbestattung, es gab eine abscheuliche Urne aus gehämmertem Kupfer, die kam neben Opas Grab. Fertig. Nichts davon hatte mit meiner Mutter irgend etwas zu tun, aber alle haben gesagt, es war ein würdiger Abschied. Die Wohnung wurde schnell aufgelöst. Meine Schwester und ich lebten ja bereits vorher schon, bis auf die letzten zwei Jahre, meistenteils bei meiner Oma, die im gleichen Haus wohnte.
Die Erwachsenen versuchten unsere Trauer im Keim zu ersticken. Es gab keinen Trost, keine Gespräche,
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