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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Problem. Aber sie besuchen mich nie im Geschäft und stellen auch nie eine Frage. Es hat ja System, auch gesellschaftspolitisch, daß diese Fragen nicht im Bewußtsein verankert werden. Es könnte ja auch ganz anders sein, die Berührung mit dem verstorbenen Opa oder der Oma könnte eine Selbstverständlichkeit sein für die Kinder, oder daß gesagt wird zu den Nachbarn, kommt mal rüber, wir nehmen Abschied und trinken zusammen einen Wein. Die Kinder würden begreifen, der Tod ist gar nicht das Bedrohliche, Schreckliche, er ist ganz natürlich. Also, wenn Menschen mit so einem Bewußtsein aufwachsen und durchs Leben gehen, dann würde doch keiner sechzig Stunden in der Woche bei Siemens Platinen löten! Jeder würde Prioritäten setzen und sich überlegen, wie er sein Leben gestaltet. Also, mißverstehen Sie mich nicht, es geht nicht darum, mehr ›rauszuholen‹. Das ist ja nur pseudo und letzten Endes selbstzerstörerisch. Es geht um die große Lehre vom Tod, vielleicht das Leben kennenzulernen, die Welt. Aber statt dessen hängt man drin in so einem Gefängnis von Geld und scheinbarer Freiheit. Und das ist diese große Leere, die viele in sich fühlen, eben auch so eine spirituelle Leere. Die Kirche hat versagt. Die Pfarrer gehen nicht mehr raus, treiben nicht mehr richtig Seelsorge, und die Bestatter haben es versäumt, Kulturarbeit zu leisten, Traditionen zu pflegen. Alle wollen nur irgendwie am Markt bestehen. Sämtliche Bestatter werben über den Preis, nicht über das Angebot – auf Berlin jetzt mal bezogen.
    Im Grunde habe ich das Gefühl, daß ich als Bestatterin eine alte Tradition erhalte und auch transformiere ins 21. Jahrhundert, letzten Endes. Meine bunten Särge sind ja nicht als Gag gedacht, wie manche vielleicht meinen. Sie bedeuten nicht, daß ich locker mit dem Tod umgehe. Sie sollen den Tod und die Trauer ja nicht schmälern, sondern sie sollen sie ermöglichen. Und wer sagt, also, das sind für mich keine Särge, der muß aber wirklich mal in die Kulturgeschichte gucken. Die klassische Sargfarbe z. B. im Hochmittelalter war Dunkelblau. Es gab pompöse Särge, die in der Kapelle standen, und über der Gruft ging unten der Sargboden auf, und der Leichnam flog polternd in die Tiefe. Es gab vieles. Und auch heute sind ja die meisten Särge nicht schwarz, sondern es ist ja eine einzige braune Soße. Das beispielsweise ändere ich, aber bei mir bleibt ein Sarg ein Sarg. Und ich verkaufe ja nicht nur Särge, ich verkaufe im Grunde genommen auch eine Vermutung, eine Illusion, wenn sie so wollen, aber eine legitime Illusion, oder eine Hoffnung. Mehr haben wir ja nicht.
    Wir haben ja nicht, wie die Mexikaner, ein traditionelles, buntes Totenfest. Wir haben einen flauen Totensonntag und diese Friedhöfe sind keine Begegnungsstätten mehr, sondern sie veröden. Es gibt auch keine Familiengräber mehr. Das ist ein Spiegel der Gesellschaft. Deshalb habe ich mich auch gefreut, muß ich sagen, daß die Friedhöfe 2005 – weil sie erkannt haben, hoppla, wir müssen unsere Gräberkultur erhalten – beschlossen haben, die Gräber günstiger zu machen und die anonymen Wiesen teurer. Und wenn jetzt die Angehörigen vor mir sitzen und sagen, also, Oma wollte immer eine anonyme Bestattung, das hat mit dem Geld nichts zu tun. Dann sage ich ganz ruhig: Na, ist gar kein Thema, ich muß sie nur darüber aufklären, es wird 200 bis 300 Euro teurer. Und siehe da, die meisten rücken sehr schnell von der anonymen Bestattung ab und nehmen dann doch lieber ein Grab. Es wird sich zeigen, daß es nicht Ideologie war, sondern eine reine Geldfrage.
    Wenn es um diesen Kulturverfall geht, da bin ich konventioneller, als viele vielleicht denken. Ich wurde gefragt, was haben Sie denn gegen Pappsärge? Haben wir heute Pappsärge, dann haben wir morgen Papptüten, oder wir haben die plastinierten Verstorbenen mit Muskulatur, mit Haut, in irgendwelchen Wanderausstellungen des Herrn von Hagens oder irgendwann sogar für zu Hause. Ich habe das nicht angeschaut, aber ich kenne viele, die in den ›Körperwelten‹ dieser Leichenausstellung, oder wie man das nennen soll, gewesen sind. Sie haben das bestaunt, denn es sind ja echte Menschen. Aber sie haben deshalb doch nicht den Körper besser verstanden – und schon gar nicht den Tod! Daß das der Körper sein soll, das ist eben das Mißverständnis. Um die Leiche, den Tod, wirklich etwas zu verstehen, ist es wichtig, daß sie am ›Kadaver‹, sag ich mal, wirklich sitzen. Ihn

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