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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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nichts. Ich mußte nicht nur den Tod meiner Mutter ignorieren, auch ihr Leben, die ganze Person. Ich hätte gern gewußt, was mit ihr war. Alle sagten früher immer, Mann, du hast so eine tolle Mutter, sie ist witzig, sie lacht, sie hat schöne Zähne. Das war alles nur Wahnsinnsfassade. Meine Mutter ist für mich eine Frau, die nicht greifbar ist. Sie war zu sehr mit sich beschäftigt. Ich hab’ sie wild erlebt, manchmal auch chaotisch, aber keiner hat mal gesagt, also, ich hab’ sie auch soundso gekannt. Ich hörte höchstens, deine gute Mutter, das ganze Heuchelprogramm, mit dem man die Toten gutspricht.
    Ich durfte ja z. B. auf keinen Fall sagen, daß ich meine Mutter sehr anstrengend, sehr nervig fand, daß es Momente gab, wo ich dachte, ich bin froh, daß sie tot ist. Das ist normal, Kinder denken so. Aber die Toten sind sofort heilig. Man muß das Lügen mitmachen. Aber nach dem Tod meiner Mutter fing im Grunde mein Leben wieder an, mir Spaß zu machen. Es war auch eine Befreiung. Meine Mutter ist ein klassischer 68er-Fall. Sie ist irgendwie völlig dran vorbeimarschiert, an der Selbstbefreiung. Mein Vater ist ganz schnell wieder verschwunden. Beide waren so 22, mit 24 ist er gegangen. Es funktionierte nicht, beide wollten nicht in so ein Eheprogramm reingepreßt werden in den 60ern. Meine Mutter hatte oft ganz schlimme, verzweifelte Phasen, mit schweren Depressionen. Dann wieder war sie wie ein Orkan. Ich fand das als Kind sehr schwer. Es hat mich aber sehr sensibilisiert dafür, in Augen zu lesen, Stimmungen zu wittern.
    Das kommt mir heute zugute. Meine Oma dagegen, bei der meine Schwester und ich ja eigentlich aufwuchsen, die war für mich wie ein Leuchtturm, hat für Ordnung und Regelmäßigkeit gesorgt, nach der Schule war das Essen auf dem Tisch. Das hat mich angeödet damals, aber heute sind das die Sachen, die mir echt Halt geben. Und im Vergleich zu meiner Mutter war meine Oma – Jahrgang 1905 – eine total emanzipierte und fortschrittliche Frau, die alles geregelt hat. Für sich selbst hatte sie übrigens auch eine Vorsorge getroffen, Feuerbestattung, ab ins Grab zu Opa. So war’s geplant. Aber zwei Jahre vor ihrem Tod, sie wurde 92, sagte sie, du hast ja jetzt dein eigenes Beerdigungsinstitut, Mensch, Claudia, schick mich mal nicht durchs Feuer. Ich glaub’ ich will doch lieber eine Erdbestattung. Da dachte ich, Oma, du hast die schreckliche Beerdigung meiner Mutter damit ein bißchen wiedergutgemacht. Und so war es dann auch. Meine Schwester und ich konnten am Sarg meiner Oma auch unsere Mutter betrauern und um sie weinen. Noch eine Urne hätte ich nur schwer ertragen.
    Nun konnte ich auch wieder auf den Friedhof. 17 Jahre habe ich den Friedhof, auf dem meine Mutter lag, nicht betreten. Wegen der schrecklichen Beerdigung. Ich mag Friedhöfe. Ich hab das auch gemerkt bei der Umbettung der Urne von meiner Mutter, daß ich Friedhöfe sehr sympathisch finde. Es ist für uns alle wichtig, daß es sie gibt. Also, daß es Orte für die Toten gibt, wo auch die sind, die ich nicht kenne, wo ich mich besinnen kann, spazieren gehen kann, ein Datum lesen, wo es viele Gräber gibt und Geschichten. Das ist wichtig.«

22
    »WIE WAR ES MÖGLICH?«
    ANWÄLTIN
    Katja Herrlich, Rechtsanwältin, engagierte Antifaschistin in Frankfurt/Oder. Einschulung 1980 in d. Polytechnische Oberschule »Hermann Matern«, Vetschau, ab 1990 EOS/Gymnasium Calau. Abitur 1992. Jurastudium a. d. Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, von 1992–2001. 1993–2001 studentische Mitarbeiterin a. Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler für Strafrecht, Strafprozeßrecht u. Kriminologie a. d. EVU. 1. Staatsexamen Jan. 2001; 2. Staatsexamen Nov. 2003. Frau Herrlich ist in einer Frankfurter Anwaltskanzlei tätig, ihr Arbeitsschwerpunkt ist Strafrecht, Strafprozeßrecht und Verwaltungsrecht. Sie ist Mitglied im Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte-Verein (RAV). Katja Herrlich wurde am 23.10.1973 in Altdöbern/DDR geboren, sie ist ledig und hat keine Kinder. Ihr Vater war Kabelmonteur, ihre Mutter Lehrerin (beide sind heute Rentner).
    Noch ist sie verhältnismäßig klein, die Zahl der organisierten Rechtsextremen. Besorgniserregend ist die größer werdende Menge der aktiven und gewalttätigen Mitläufer. Mehr als besorgniserregend ist die Verwandlung von faschistoidem Gedankengut und Nazisymbolik, gemixt mit Emblemen und Outfit der autonomen Linken, zum Faszinosum einer angesagten Jugendkultur. Katastrophal ist,

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