Der Azteke
sagte der Unglückliche. »Ich flehe Euch an, Gebieter, weder Euch noch mir den Unmut des Verehrten Sprechers zuzuziehen. Ich erkläre Euch ja nur die neuen Vorschriften.«
»Dann sprecht!« sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Zwischen der Tür und dem Thron des Verehrten Sprechers sind drei Kreidestriche gezogen worden. Den ersten seht Ihr gleich hinter der Tür. Dort bleibt Ihr stehen und vollführt die Geste des Tlalqualiztli – Finger auf den Boden und ihn dann an die Lippen führen – und sagt: ›Gebieter!‹, und schreitet weiter bis zum zweiten Kreidestrich, verneigt Euch abermals und sagt: ›Mein Gebieter‹, schreitet noch weiter bis zum dritten, küßt wieder die Erde und sagt: ›Erhabener Gebieter‹. Erhebt Euch nicht, bis er Euch ein Zeichen gibt, und nähert Euch ihm nicht weiter als bis zum dritten Kreidestrich.«
»Das ist unglaublich!« sagte ich.
Der Kämmerer mied meinen starren Blick und fuhr fort: »Ihr habt nur dann das Wort an den Verehrten Sprecher zu richten, wenn er Euch eine direkte Frage stellt, welche eine Antwort erfordert. Erhebt nie laut die Stimme. Die Unterredung ist beendet, sobald der Verehrte Sprecher das sagt. Tut er das, vollführt augenblicklich dort, wo Ihr steht, den Tlalqualiztli und zieht Euch rückwärts gehend …«
»Das ist doch heller Wahnsinn.«
»Zieht Euch rückwärts gehend zurück, die Augen ständig ehrerbietig auf den Thron gerichtet, küßt bei jedem Kreidestrich die Erde und geht rückwärts schreitend weiter, bis Ihr durch die Tür hindurch seid und wieder im Korridor steht. Dann dürft Ihr Euer Gewand und Eure Insignien wieder anlegen …«
»Und meine menschliche Würde«, erklärte ich säuerlich.
» Ayya, ich flehe Euch an, Gebieter«, sagte das verängstigte Kaninchen. »Macht bloß drinnen, in seiner Gegenwart, nicht solche Späße. Ihr würdet dann nicht rückwärts schreitend wieder herauskommen, sondern in Stücke gehackt.«
Nachdem ich mich auf die vorgeschriebene, demütigende Weise dem Thron genähert und in den richtigen Abständen »Gebieter … mein Gebieter .,. erhabener Gebieter« gesagt hatte, ließ Motecuzóma mich lange Zeit in meiner unterwürfigen Haltung verharren, ehe er sich herabließ, schwerzüngig zu sagen: »Du kannst dich erheben, Adlerritter Chicóme-Xochitl Tliléctic-Mixtli.«
Hinter ihm hatten die alten Herren des Staatsrats Aufstellung genommen; die meisten von ihnen hatten dieses Amt selbstverständlich auch schon in früheren Regierungen bekleidet, doch waren auch zwei oder drei neue Gesichter darunter. Eines davon gehörte der neuernannten Weiblichen Schlange, Tlácotzin. Alle Männer gingen barfuß, und anstelle der üblichen vornehmen gelben Umhänge trugen sie das gleiche Sackkleid wie ich auch und machten dieserhalb allesamt ein unglückliches Gesicht. Der Thron des Verehrten Sprechers war ein ganz gewöhnlicher niedriger Icpáli-Stuhl, der noch nicht einmal auf einem Podest stand, doch die Eleganz seines Aufzugs strafte – zumal im Gegensatz zu den anderen im Raum – jede Demut in ihm Lügen. Eine Reihe von Borkenpapieren lagen der Länge nach aufgeklappt auf seinem Schoß und reichten zu beiden Seiten bis auf den Boden hinunter; offensichtlich hatte er meinen vollen Namen gerade daraus abgelesen. Jetzt blätterte er wichtig in verschiedenen Papieren und sagte:
»Es scheint, daß mein Onkel Ahuítzotl mit dem Gedanken gespielt hat, dich eines Tages in den Staatsrat zu berufen, Ritter Mixtli. Ich nehme von diesem Gedanken Abstand.«
»Vielen Dank, Verehrter Sprecher«, sagte ich, und das war ganz aufrichtig gemeint. »Ich habe nie den Ehrgeiz besessen …«
Mit schneidender Stimme unterbrach er mich: »Du hast nur dann zu sprechen, wenn ich durch eine Frage zu erkennen gebe, daß ich eine Antwort wünsche.«
»Jawohl, Hoher Gebieter.«
»Und diese Antwort war überflüssig. Gehorsam braucht nicht betont zu werden, er gilt als selbstverständlich.«
Wieder vertiefte er sich in seine Papiere, während ich – weißglühend vor Zorn – stumm dastand. Einst hatte ich Ahuítzotl für übertrieben großspurig gehalten, doch in der Rückschau wollte er mir warmherzig und mitteilsam erscheinen im Vergleich zu seinem eisig zurückhaltenden und verschlossenen Neffen.
»Die Karten und Tagebücher über deine Reisen sind ausgezeichnet, Ritter Mixtli. Die über Texcála werden uns sogleich von Nutzen sein, da ich einen neuen Krieg plane, der diesen Texcaltéca für immer ihren Trotz brechen wird.
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