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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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nähert – wozu soll ich da noch nütze sein?«
    Nacht Wind sagte: »Ich habe ein Denkmal erwähnt. Ein Denkmal tut nichts weiter, als aufrecht dastehen, doch das ist nicht immer leicht getan.«
    »Und es wird auch nicht leichter werden«, sagte Der Älteste Der Alten Götter. »Gerade in dieser Nacht hat euer Verehrter Sprecher Motecuzóma einen nicht wieder gut zu machenden Fehler begangen und wird noch andere begehen. Was kommt, ist ein Sturm aus Feuer und Blut, Mixtli. Du bist nur zu einem einzigen Zweck geformt und gehärtet worden. Ihn zu überleben.«
    Ich hatte abermals einen Schluckauf. »Warum ausgerechnet ich?« fragte ich.
    Der Älteste Der Alten Götter sagte: »Vor langer Zeit hast du eines Tages vor einem Hügel nicht weit von hier gestanden, unentschlossen, ob du hinaufklettern solltest oder nicht. Damals habe ich dir gesagt, kein Mensch habe je ein anderes Leben gelebt als das, welches er sich selbst erwählt. Du hast dich entschlossen zu klettern. Und die Götter haben beschlossen, dir zu helfen.«
    Ich stieß ein schauriges Lachen aus.
    »Oh, gewiß, du hattest nicht viel Sinn für ihre Hilfe«, räumte er ein, »genausowenig wie der Stein zu schätzen weiß, was Hammer und Meißel aus ihm machen. Und dennoch haben sie dir geholfen. Und jetzt wirst du ihnen ihre Gunst vergelten.«
    »Du wirst den Sturm überleben«, erklärte Nacht Wind.
    Der Älteste Gott fuhr fort: »Die Götter haben dir geholfen, ein Wortkundiger zu werden. Dann haben sie dir geholfen, in ferne Lande zu reisen, viel zu sehen und viel zu erfahren. Das ist der Grund, warum du besser als jeder andere Mensch weißt, wie Die Eine Welt gewesen ist.«
    »Gewesen ist?« wiederholte ich echogleich seine Worte.
    Der Älteste Der Alten Götter vollführte mit seinem faltigen Arm eine umfassende Bewegung. »All dies wird verschwinden, und kein Mensch wird es sehen, anfassen oder sonstwie mit seinen Sinnen wahrnehmen. Nur in der Erinnerung wird es weiterleben. Und dir ist es bestimmt, dich zu erinnern.«
    »Du wirst überleben«, sagte Nacht Wind.
    Der Älteste Gott packte mich bei der Schulter und sagte unendlich traurig: »Eines Tages, wenn all dies vergangen ist … wenn niemand es jemals wieder sehen wird … werden die Menschen die Asche dieser Lande durchsuchen und Fragen stellen. Du hast die Erinnerungen und besitzt die Worte, von der Pracht Der Einen Welt zu erzählen, auf daß sie nicht vergessen werde. Du, Mixtli! Wenn alle anderen Denkmäler in diesen Landen zerbrochen sein werden, wenn sogar die Große Pyramide fällt – du wirst nicht fallen.«
    »Du wirst stehen«, sagte Nacht Wind.
    Wieder lachte ich, tat die Vorstellung verächtlich ab, daß die mächtige Große Pyramide jemals fallen könnte. Immer noch in dem Versuch, die beiden mahnenden Trugbilder bei Laune zu halten, sagte ich: »Meine Gebieter, ich bin nicht aus Stein. Ich bin nur ein Mensch, und der Mensch ist das hinfälligste aller Standbilder.«
    Aber ich erhielt keine Antwort mehr darauf, keine Zurechtweisung. Die beiden Erscheinungen waren so rasch verschwunden, wie sie gekommen waren, und ich redete mit mir selbst.
    Ein wenig weiter weg, hinter der Bank, flackerten die trüben blauen Flammen der Straßenbeleuchtung. In ihrem trauervollen Licht waren die roten Tapachini-Blütenblätter, welche auf mich herniederregneten, dunkel, von einem dunklen Rot, gleichsam als wären sie Blutstropfen. Ich erschauerte, und mich beschlich ein Gefühl, welches ich nur ein einziges Mal zuvor kennengelernt hatte – als ich das erstemal am Rande der Nacht und am Rande der Dunkelheit gestanden hatte –, das Gefühl, völlig allein zu sein in der Welt, verloren und verzweifelt. Der Platz, wo ich saß, war nur eine winzige Insel in dem fahlen blauen Licht, und rings um diesen Platz herum war nichts als Dunkelheit und Leere und das dumpfe Stöhnen des
    Nachtwinds, und der Wind stöhnte: »Erinnere dich …«

    Als mich im Morgengrauen ein Nachtwächter weckte, welcher dafür zu sorgen hatte, daß die Fackeln nicht ausgingen, lachte ich über mein wenig ansprechendes, betrunkenes Gehabe und meinen womöglich noch närrischeren Traum. Ich schlurfte zurück in den Palast, mit steifen Gliedern, weil ich auf der kalten Steinbank geschlafen hatte, und erwartete, daß der gesamte Hof noch schlief. Dort jedoch herrschte helle Aufregung, alle waren bereits auf, rannten erregt hin und her, und an den verschiedenen Portalen des Palastes hatte unerklärlicherweise eine Anzahl von

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