Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
nahm das BKA am nächsten Tag zum Anlaß, den Entführern über Rechtsanwalt Payot mitzuteilen: »Die Mitteilung … stellt keinen gegenwärtigen Lebensbeweis dar. Das Bundeskriminalamt fordert deshalb zusammen mit der nächsten Mitteilung der Entführer einen prüfbaren Beweis dafür, daß Hanns Martin Schleyer zum Zeitpunkt der Absendung dieses Beweises lebt.«
Im übrigen seien die in der Botschaft enthaltenen Modalitäten für den Austausch nicht präzise genug: »Ohne Kenntnis von Flugziel und Flugweg und der tatsächlichen Gewährung von Überflug- und Landerechten wäre eine Besatzung – aufgrund der fliegerischen Erfahrungen im Entführungsfall Lorenz – für die womöglich lebensgefährliche Aufgabe nicht zu finden.«
Die schlagartige Überprüfung und Durchsuchung der in der Bergheimer Liste erfaßten Objekte wurde vom Regierungspräsidium Köln mit dem Einsatzbefehl Nr. 2 vom 11 . September 1977 um 18 . 30 Uhr angeordnet.
In der Polizeistation Erftstadt war man felsenfest überzeugt, daß Schleyer im Appartement 104 des Hochhauses an der Straße Zum Renngraben 8 gefangengehalten wurde. »Der Raster stimmte eindeutig«, sagt später Rolf Breithaupt, damals Chef der Polizei Erftstadt. Wenn er mit seiner Frau am Hochhaus vorbeifuhr, wies der Hauptkommissar kurz nach oben: »Dort sitzt er.«
Zweimal war der Beamte, mit knapp 1 , 90 Meter und über zwei Zentnern ein Bulle von Kerl, vor Ort im Objekt, um es auszukundschaften und danach einen Kräfteplan für die Erstürmung aufzustellen. Er trug Zivil und im Halfter eine Dienstpistole. Im dritten Stock schritt er langsam von Wohnung zu Wohnung, gesichert von seinem Kollegen Kanzinger. Auch vor der Tür der Wohnung 104 blieb er stehen. »Ich war«, zeigte später Breithaupt mit den Händen an, »so ’n Stück von Schleyer entfernt.«
Es war vermutlich der Tag, an dem sich Peter-Jürgen Boock mit Schleyer allein in der Wohnung befand. Ein Moment absoluter Ruhe. Es gab nichts zu tun, keine Verhöre, keine Erklärungen. Die beiden unterhielten sich leise. Plötzlich klingelte es deutlich vernehmbar an einer der benachbarten Wohnungstüren. Dann an der nächsten, dann an der übernächsten. Das Klingeln kam näher. Schließlich läutete es auch an der Tür des Appartements 104 . Fieberhaft überlegte Boock, was er tun sollte: »Wenn das jetzt die Bullen sind …« Er griff zur Maschinenpistole und entsicherte sie, um Schleyer deutlich zu machen, daß er sich völlig still zu verhalten habe. Der Entführte begriff den Ernst der Lage und rührte sich nicht. Die Schritte draußen entfernten sich.
»Okay«, sagte Boock und legte die Waffe beiseite, »ich halte die Situation für bereinigt. Wir können wieder reden.«
»Hättest du mich erschossen?« fragte Schleyer.
Boock zögerte und dachte im selben Moment, daß er bei dieser Frage eigentlich nicht zögern durfte. Er würde bei Schleyer nur Hoffnungen wecken, die ihn dazu verleiten könnten, irgend etwas falsch zu machen. Deshalb sagte Boock besonders entschieden: »Ja.« Aber er glaubte nicht, daß Schleyer ihm das abnahm.
»Solltest du mal auf die Idee kommen, mich laufenzulassen«, erwiderte Schleyer leise, »ich versichere dir, daß ich mich für dich verwenden werde.«
Boock antwortete: »Solltest du auf die Idee kommen zu fliehen, dann sei sicher, daß ich schieße.«
Hauptmeister Ferdinand Schmitt, der die entscheidende Recherche erledigt hatte, wollte am liebsten den Fall auf eigene Faust beenden. »Ich marschier da jetzt rein«, sagte er zu seinen Kollegen, aber sein Chef Breithaupt erinnerte ihn an die Weisungen aus Köln und Bonn – kein eigenmächtiges Handeln, kein Risiko. Breithaupt: »Wir sind immer davon ausgegangen, daß die Wohnung vom BKA oder der GSG 9 durchsucht wird.« Doch nichts geschah.
Nachtdienstmeldung Stammheim, 11 . September:
» 19 . 30 Uhr Baader bekam Spritze vom Sani. 23 . 02 Uhr Medikamentenausgabe durch Sani. 23 . 45 Uhr Baader verlangt eine Dolviran – ausgegeben. 2 . 20 Uhr Baader verlangt eine Dolviran – ausgegeben. Sonst keine Vorkommnisse!«
11. »Ich bin nicht bereit, lautlos aus diesem Leben abzutreten …«
(Montag, 12 . September 1977 )
Am Morgen hinterlegte ein etwa 25 jähriger Mann im Düsseldorfer Hotel »Breidenbacher Hof« ein Couvert mit der Aufschrift »Herrn von Brauchitsch, Flick KG «. Der Umschlag enthielt ein Tonband und einen Brief an die Bundesregierung, der mit einem Lebensbeweis Schleyers begann: »heute
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