Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
hypothetische Frage.«
Die Alternative »Mord oder Selbstmord« wurde zur Glaubensfrage. Wer den Selbstmord der Stammheimer Gefangenen für denkbar oder wahrscheinlich hielt, galt im Umfeld der RAF als »Counter-Schwein«, bestenfalls als unkritischer, ahnungsloser Zeitgenosse.
Umgekehrt war es nicht anders. Wer öffentlich Zweifel an der offiziellen Selbstmordversion anmeldete, war bereits als »Sympathisant« der RAF verdächtig.
Schon bevor Kriminalpolizei und Untersuchungsausschuß mit ihren Ermittlungen begonnen hatten, wußten die meisten Politiker: Es war Selbstmord, und die Rechtsanwälte hatten die Waffen in den Hochsicherheitstrakt eingeschmuggelt.
»Man kann die Perfidie auch so weit treiben, daß man seine eigene Tötung zur Hinrichtung macht«, sagte Bundesinnenminister Maihofer schon am Tag nach der Stammheimer Todesnacht.
Damit war klar, daß alle Spuren, die auf »Einwirkung Dritter« hinweisen könnten, in Wahrheit die Selbstmordversion untermauerten.
Umgekehrt wurde alles, was auf Selbstmord hindeutete, aus dem Umfeld der RAF – und nicht nur von dort – als Indiz für eine als Selbstmord getarnte Mordaktion gewertet.
In jedem komplizierten Ermittlungsverfahren gibt es Vorgänge, die nur begrenzt aufgeklärt werden können. Der Rekonstruktion vergangener Ereignisse sind Grenzen gesetzt. Indizien sprechen nicht immer für sich, unterliegen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten.
Jede unverständliche Schlamperei kann, wenn man will, als Teil eines perfiden Plans angesehen werden, jede Dummheit als Strategie, jeder Zufall kann als Grundlage abenteuerlicher Spekulationen dienen.
So wie die RAF schon zu Lebzeiten ihrer Gründer oftmals als Projektionsfläche für Wünsche und Hoffnungen, Ängste und Haßgefühle herhalten mußte, so kumulierten derartige Übertragungen in der Beurteilung der Todesnacht von Stammheim. Zumal im Ausland traute man den Deutschen alles zu. Wie sorgfältig auch immer die Todesermittlung geführt worden wäre – alle Spekulationen und Verdächtigungen hätte man damit nicht beseitigt. Wer glaubt, was er glauben will, läßt sich auch durch Indizien nicht überzeugen.
Und doch wäre ein Großteil der Spekulationen über die Todesnacht von Stammheim bei gründlicherer Untersuchung, bei weniger Voreingenommenheit der Ermittler möglicherweise gar nicht erst entstanden.
Neunzehnmal tagte der Untersuchungsausschuß des Stuttgarter Landtags, um Licht in das Dunkel der Nacht von Stammheim zu bringen. Einige der Sitzungen waren geheim – Futter für Mutmaßungen. 79 Zeugen und Sachverständige wurden vernommen. »Aus Geheimhaltungsgründen wurde bei der Vernehmung eines Zeugen teilweise die Öffentlichkeit ausgeschlossen«, heißt es im Bericht des Ausschusses. Über Einzelheiten aus den Sitzungen des Krisenstabes in Bonn durften Zeugen überhaupt nicht befragt werden. Die Protokolle des Krisenstabes sind geheim und werden es auch bleiben.
Von der – zur Durchsetzung einer »Nachrichtensperre« während der Schleyer-Entführung – für später angekündigten umfassenden Unterrichtung der Öffentlichkeit über die 44 Tage im Herbst 1977 blieb eine dürftige »Dokumentation« des Bundespresseamtes zu den »Ereignissen und Entscheidungen im Zusammenhang mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine ›Landshut‹« übrig, keine hundert Seiten stark.
Der Bericht des Untersuchungsausschusses wurde fertiggestellt, bevor überhaupt die letzten kriminaltechnischen Untersuchungen abgeschlossen waren. Er widerspricht sich in aufeinanderfolgenden Seiten. So ist zum Beispiel auf Seite 88 von einer »Pistole Smith & Wesson, vernickelt« die Rede, gefunden in einem Wandversteck in Zelle 723 . Auf Seite 90 ist daraus ein »verchromter Revolver Marke Colt Detective Special« geworden.
Über die naheliegende Frage, ob die Abhörmaßnahmen in Stammheim über das Frühjahr 1977 hinaus durchgeführt wurden, ob während der Schleyer-Entführung in den Zellen der Gefangenen gelauscht wurde, ob es möglicherweise ein Tonband mit Gesprächen oder Geräuschen der Todesnacht gibt, wurde kein Zeuge vernommen. Das Thema Abhören war im Untersuchungsausschuß tabu.
Der Schlußbericht des Staatsanwalts, mit dem das »Ermittlungsverfahren wegen des Todes von Baader, Ensslin und Raspe« eingestellt wurde, ist ganze sechzehn Seiten lang. Auf Widersprüche in den Untersuchungsergebnissen wird mit keinem Wort eingegangen.
Im Einstellungsbeschluß heißt
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