Der Babylon Code
Relikt in die Hände zu nehmen.
Lautes Lachen drang von den anderen Tischen herüber, Gläser und Geschirr klirrten, aber die Professorin klinkte sich aus dieser Welt aus.
Ihre Hände ergriffen behutsam die kleine Tontafel, die kaum zehn Zentimeter groß war. Sie war übersät mit eng gestellten Schriftzeichen, die Zeilen kaum merklich schräg nach unten verlaufend, als habe der Schreiber die Linienhöhe nicht durchgängig halten können.
Die Wissenschaftlerin drehte die Tafel immer wieder, hielt sie dicht vor ihre Augen. In ihren gespannten Gesichtsausdruck mengte sich Enttäuschung.
»Schade«, sagte sie schließlich und legte die Tafel entschlossen auf das Tuch zurück.
»Wieso?« Brandau sah erst sie an, dann Chris. »Ist es etwa nicht das, was…?«
»Ja und nein.« Die Professorin bedachte Chris mit einem bösen Blick. »Rizzi kennt sich besser aus, als er zugibt.«
Brandau schüttelte immer noch verständnislos den Kopf, griff nach den Baumwolltüchern, auf denen das Täfelchen lag, und zog sie zu sich heran. Sein Gesicht war rot, und die Halsschlagader pochte wie ein Pumpwerk. Erregt griff er nach der Tafel. Dabei rutschten die Baumwolltücher vom Tisch. Brandau fluchte und legte die Tafel ab. Dann bückte er sich, fingerte ungeschickt nach den Tüchern, ehe er sie wieder auf den Tisch legte und erneut nach der Tafel griff.
Chris packte den Priester am Handgelenk, noch bevor dessen Hand die Tafel fassen konnte.
»Nicht doch. Sie ist die Expertin. Sie lassen sie womöglich fallen.«
»Lassen Sie mich los!«, zischte der Priester. »Ich treffe mich doch nicht mit einem Hasardeur und Dieb, um mich auch noch beleidigen zu lassen!«
Chris drückte fester, bis der Priester die Hand zurückzog. Als Chris das Handgelenk losließ, verschleierte sich Brandaus Blick. Chris grinste. Der Priester wünschte ihm alle Qualen der Hölle.
»Das ist eine der Tafeln von Nebukadnezar. Sein Siegel ist zu erkennen.« Die Professorin sah zu Brandau. »Doch es ist keine der Tafeln, die den wahren Wert dieser Antiken ausmachen.«
»Sorry.« Chris lächelte. »Aber der kleine Test musste sein. Wie sollte ich sonst wissen, ob Sie die sind, für die Sie sich ausgeben?«
»Misstrauen beherrscht Ihr Leben, was?« Brandaus Stimme triefte vor Verachtung.
»Forster ist tot – reicht das?« Chris schüttelte den Kopf. Brandau war ein unangenehmer Mensch, aber harmlos und lebte hinter seinen Mauern offensichtlich auf der Insel der Glückseligkeit. Zwei Monate in der Mordkommission, und der Mann würde anders denken. »Was steht drauf?«
»Sie wissen es wirklich nicht?« Ramona Söllner blickte Chris ungläubig an. Dann lachte sie. »Woher auch? Nebukadnezar II. berichtet auf seinen Tafeln von einem erfolgreichen Feldzug gegen Kišh, das er besiegt und in sein Reich eingegliedert hat. So jedenfalls geht es aus der Übersetzung hervor, die Forster geliefert hat. Diese Tafel hier beschreibt den triumphalen Einzug in Kišh, wenn ich das in der Kürze richtig erfasst habe. Nach seinem Sieg nahm Nebukadnezar II. aus dem Tempel des Gottes Ninurta in Kišh Heiligtümer mit, die von da an in Babylon im Tempel der Gottheit Ninurta verehrt wurden.«
»Kišh?« Chris erinnerte sich, den Namen von Forster in der Toskana gehört zu haben.
»Eine ehemalige Königsstadt in Mesopotamien zurzeit der Sumerer – wie Uruk auch.«
»Nicht weit von Babylon entfernt«, warf Brandau herablassend ein. »Fast in Sichtweite. Keine hundert Kilometer entfernt.
Das waren damals alles Stadtstaaten, jede Stadt ein Königreich. Es war die Zeit der ersten Staatenbildung, blutig und gewalttätig.«
Chris runzelte die Stirn. »Was hat ein Mann Gottes mit sumerischen Tontafeln und den heidnischen Göttern Babylons zu tun?«
Kapitel 19
Berlin
Freitag
Chris lauerte auf die Antwort des Priesters, doch Brandau sah nur wortlos zur Professorin, überließ ihr das Reden.
»Als uns dieser Unbekannte über Kontaktmänner das Angebot machte und wir erfuhren, woher die Stücke stammten und welche Geschichte damit verbunden sein sollte, haben wir natürlich in unseren Archiven geforscht. Logisch?« Ramona Söllners Augen funkelten, als kanzle sie einen Studenten ab.
»Koldewey hat in einem Bericht an die Orientgesellschaft tatsächlich von zwei toten Ausgrabungsmitarbeitern berichtet. Er hat den Vorfall als privaten Racheakt unter den verschiedenen Stämmen eingeordnet.« Sie überlegte kurz. »Außerdem kam es damals immer wieder zu Überfällen durch
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