Der Bademeister: Roman (German Edition)
würde ich entlassen, und so lange müsste ich ausharren. Alle Zeit der Welt hatte ich, und schließlich wunderte sich niemand mehr, dass ich für zwei arbeitete. Erst als man mich entließ, sagte mir Frau Karpfe drohend, ich hätte Überstunden gemacht, freiwillig, betonte sie, und dass ich keinen Anspruch auf Bezahlung dafür hätte, fügte sie hinzu, als wäre ich ein Dieb.
Ich hatte Zeit genug. Als ich bei meiner Rückkehr ins Schwimmbad durch die Räume ging und auf die Spinnweben an der hinteren Treppe zur Galerie und zu den Wannenbädern stieß, fiel es mir wieder ein. Kaum je wurde diese Treppe benutzt, und die Spinnen trieben dort ungestört ihr Wesen, denn selbst wenn die Halle gestrichen wurde, übersahen die Maler manchmal den schmalen Aufgang. Ich habe sie entdeckt, als ich anfing, hier zu arbeiten, der alte Bademeister verlangte, ich müsse jeden Winkel der Halle genau kennen. Mit der Hand wischte ich sie weg, und ich erinnere mich an die weiche Berührung, die ekelhaft war, weil man das dichte Netz mit ganzer Kraft wegwischen wollte. Nur dieses eine Mal habe ich es angefasst, danach klebten mir die Fäden an der Hand und in den Haaren, als wäre ich mit dem Kopf hineingelaufen. Jetzt sind überall Spinnweben, unter der Galerie, an jedem Durchgang, in den Auskleidekabinen. Sogar im Schwimmbecken machen sie sich an den Haltestangen breit, und ich versuche nicht mehr, sie zu entfernen.
Cremer habe ich von meiner Entlassung nicht gleich erzählt. Als ich am Tag danach erst abends zum Kiosk kam und er mir unwirsch die beiden Brötchen gab, sagte ich nur, ich bräuchte anderntags kein Mittagsbrot. Weil andere Leute da waren, Zeitungen kaufen wollten, winkte er mir, Platz zu machen, ich grüßte ihn zum Abschied und ging weiter. Wäre meine Mutter nicht gestorben, wüsste er bis heute nicht, dass man das Schwimmbad geschlossen und mich entlassen hat. Was ich die ganze Zeit gemacht habe seither, wollte er wissen, aber ich konnte es ihm nicht sagen. Es ist so still auf einmal, sagte ich. Man wacht morgens auf, wollte ich erklären, und dreht sich um und sieht nicht mehr, woher man gekommen ist. Dann beginnt man, im Kreis herumzulaufen. Man läuft im Kreis herum, weil man nicht weiß, wohin. Es müsste, wollte ich ihm sagen, doch etwas im Kopf sein, das erklärt, wie alles zustande gekommen ist. Aber die ganze Zeit ist verschwunden. Nicht einmal ein Schild zur Warnung ist aufgestellt. Ich wache morgens auf und weiß, der Atem reicht nicht aus, um aufzustehen, der Atem ist so kurz und geht so schwer, als wäre man die ganze Nacht im Schlaf gerannt, und wenn ich etwas sagen will, fehlt mir die Luft. Ich wollte ihm erklären, dass ich aufwache und nichts erkenne, nicht einmal das Zimmer, in dem ich schon als Kind geschlafen habe. Es ist, als wäre man plötzlich blind, wollte ich ihm sagen, und könnte sich nicht daran erinnern, wie alles ausgesehen hat.
Die Häuser, die Autos, sogar die Leute sehen anders aus als früher, antwortete ich Cremer, ins Schwimmbad geht keiner mehr. Vielleicht sind die Leute noch dieselben, aber ich kenne sie nur unbekleidet, mit all den Kleidern finde ich mich nicht zurecht. Du redest Unsinn, sagte Cremer und schüttelte besorgt den Kopf. Deine Mutter war schon alt, sagte er, um mich zu trösten, und dachte, der Tod meiner Mutter hätte mich verwirrt. Er war auf meine Bitte in die Wohnung gekommen, und nachdem der Vertreter der Beerdigungsgesellschaft fortgegangen war, saß er mit mir im Wohnzimmer, in dem ich seit Jahren nicht gesessen habe. Ein geblümtes Sofa und zwei Sessel stehen dort an einem kleinen Tisch, hinter der Schmalseite des Tisches ein Fernseher. Der niedrige Schrank mit den Glasscheiben ist bis auf einige Blumenvasen leer. Als Cremer gegangen war, öffnete ich die Schubladen. In der einen lag ein Fotoalbum. Solange ich ein Kind war und bis zum Tod meines Vaters hat meine Mutter gerne fotografiert, und auf den meisten Fotos waren mein Vater und ich zu sehen, ein gerade aufgerichteter, ernster Mann und ein Kind, das wuchs, bis es größer war als er. Man kann ihnen nicht ansehen, dass sich der eine umbringen, der andere sein ganzes Leben in einem Schwimmbad verbringen wird. Unter den Fotos standen Daten, und die Daten waren durchgestrichen. Nur unter den Fotos, die meine Mutter zeigten, war das Datum noch zu lesen.
Ich nahm das Fotoalbum, trug es in die Küche und legte es quer über den Mülleimer, denn es war zu groß und passte nicht hinein. Dann ging ich
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