Der Bann (German Edition)
Entschädigung für die Unbequemlichkeiten des heutigen Abends. Gib nicht gleich alles aus. Und verlier es nicht.»
Zwinkernd wandte sich Lukács um und ging die Straße hinunter davon.
Kapitel 10
Gödöllő, Ungarn
1873
B alázs József wartete im marmorgefliesten Eingang des Stadthauses und starrte auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Es war keine von seinen Uhren – trotzdem, handwerklich war sie passabel. Das behäbige Pendel markierte das Verstreichen langer Sekunden, während József in dem kühlen Foyer auf einem hochlehnigen Stuhl saß und darauf wartete, gerufen zu werden.
Zwei Mitglieder des
tanács
hatten ihn bei einem Treffen mit einem Kunden in Pest unterbrochen und abgeholt. Unterwegs hatten sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Als das Ziel der Fahrt offenbar wurde, war József still geworden. Niemand hinterfragte die Motive hinter den Aktionen des
Örökös Főnök
. Er war schon früher herzitiert worden, doch diesmal war es etwas anderes. Unruhe hatte ihn erfasst und wurde mit jedem Ticken der Uhr stärker.
Schließlich öffnete sich am Ende des Foyers eine Tür, und ein streng aussehender alter Mann mit weißen Haaren und schwarzem Anzug erschien und kam zu József. «Der
Főnök
will Sie jetzt sehen», sagte er.
József erhob sich. «Selbstverständlich.»
«Er ist im Rosengarten. Wenn Sie mir folgen wollen.»
József folgte dem alten Mann durch einen kunstvoll mit Stuck verzierten Vorraum und durch eine von drei Türen in einen quadratischen Innenhof. Vor ihnen lag ein französischer Garten, der von einem überdachten Wandelgang umschlossen war. In der Mitte des Gartens stand ein Wasserbrunnen, von dem vier Kieswege abgingen. Rote und weiße Rosen säumten die Wege. Neben dem plätschernden Brunnen wartete bei einem flachen, weiten Teich der
Örökös Főnök
. Ein Diener in weißem Anzug hielt einen Parasol über ihn und schützte ihn vor der Sonne.
Als József näher trat, wandte sich der
Főnök
zu ihm um. Die Haut auf seinem alten Gesicht war überzogen von unzähligen Falten, und das Fleisch an seinen Knochen war welk. Doch seine Augen, als er József nun betrachtete, waren hell und glänzend und wach: zwei Kugeln aus kaltem Jade.
József sank vor dem
Főnök
auf die Knie und neigte den Kopf. «Gebieter, ich bin sogleich gekommen, als ich gerufen wurde.»
Der
Főnök
seufzte, und sein Atem ging rasselnd wie der Wind durch die Zweige eines toten Baumes. «Bitte, József, steh auf, steh auf. Wie lange kennen wir beide uns nun schon?»
József erhob sich. Er bemerkte, dass der
Főnök
ihn aufmerksam musterte, und seine Unruhe verwandelte sich in Angst.
«Was macht Jani?»
Was war das nun wieder für eine Frage? József streckte dem
Főnök
die offenen Handflächen hin. «Jani ist ein eigensinniger Junge. Er ist in das Zsinka-Mädchen verliebt, und es fällt ihm schwer, sich in Geduld zu üben.»
«Der
tanács
wird bald seine Entscheidung treffen. Geduld ist eine wertvolle Eigenschaft. Es wird ihm nicht schaden, noch eine Weile länger zu warten.»
«Ich stimme Euch zu, Gebieter.»
Der
Főnök
nickte nachdenklich. Er atmete ein weiteres Mal rasselnd ein und aus, dann drehte er sich zu dem Diener um, der den Sonnenschirm hielt. «Lass uns bitte allein. József, gib mir deinen Arm. Geh mit mir zur Bank.»
Während der junge Diener in seinem weißen Anzug den Parasol zusammenfaltete und sich ins Haus zurückzog, bot József dem alten Mann seinen Arm. Er spürte, wie sich die Finger des
Főnök
um sein Fleisch schlossen wie die Klauen eines alten Raubvogels. Sie gingen gemeinsam zu einer Holzbank im Schatten des Wandelgangs und setzten sich mit Blick in den Garten.
Als József den Garten betreten hatte, hatte er zwei Wachen bemerkt, die den nächstgelegenen Eingang flankierten. Jetzt kamen zwei weitere Wachen durch eine Tür auf der anderen Seite und bezogen rechts und links der Tür Stellung. József spürte, wie sich seine Kopfhaut zusammenzog.
«Mein alter Freund, was ich zu sagen habe, wird schmerzvoll werden. Ich möchte, dass du das weißt. Ich fürchte, es gibt keinen Weg, wie ich es dir schonend beibringen könnte. Dein Lukács … er ist nicht zu den beiden letzten
végzets
erschienen.
József starrte auf eine der Säulen, die die Decke des Gangs stützten, ohne recht zu begreifen, was er hörte. «Das kann nicht sein.»
«Du glaubst, dass ich mich irre?»
József atmete scharf ein, als ihm sein Fehler bewusst wurde. «Nein. Nein, selbstverständlich
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