Der Bann (German Edition)
nicht. So etwas würde mir niemals in den Sinn kommen. Aber ich …» Er brach ab. «Ich habe ihn selbst zum zweiten
végzet
begleitet», sagte er dann. «Ich habe gesehen, wie er hineingegangen ist.»
«Man hat mir berichtet, dass dein Sohn wieder nach draußen geschlüpft ist, kaum dass deine Kutsche abgefahren war. Beim dritten
végzet
ist er überhaupt nicht erschienen.»
József spürte, wie sich seine Brust zusammenzog und sein Magen verknotete, als wäre er in ein tiefes Loch gefallen. Er hob eine Hand vor das Gesicht und stellte fest, dass sie zitterte. «Ich … ich habe ihm vertraut. Ich war stolz, unermesslich stolz. Ich dachte, dass er trotz all seiner Schwierigkeiten die Absicht hatte, sich seinen Verpflichtungen zu stellen. Er hat mein Vertrauen verhöhnt. Er hat mich zum Gespött gemacht …»
Der
Főnök
neigte den Kopf. «Das tut mir sehr leid.»
József sah den alten Mann von der Seite an. Er straffte die Schultern. «Lukács ist immer noch mein Sohn», sagte er. «Was wird nun mit ihm geschehen?»
«Du verstehst sicher, wie wichtig es ist, dass wir unsere Tradition bewahren.»
«Ich weiß auch, Gebieter, dass Ihr die Macht besitzt, Recht zu sprechen, wie es Euch beliebt.»
Der alte Mann nickte, wandte den Kopf und sah ihn an. Die jadefarbenen Augen waren jetzt mit Azur durchsetzt. «Das ist richtig, József. Und ich würde zögern, irgendeinen deiner Söhne zu verstoßen, selbst bei einem so schweren Verstoß wie diesem. Doch das ist noch nicht alles. Es sind weitere Dinge ans Licht gekommen.»
József schloss die Augen.
«Gestern Abend wurde in Buda eine junge Frau vergewaltigt. Ein ausgesprochen hübsches Ding, wie es heißt. Sie hat ihren Verlobten dieses Verbrechens beschuldigt.» Der
Főnök
schüttelte den Kopf. «Ein Zwischenfall wie dieser wird nicht oft gemeldet, und selbst wenn, noch seltener ernst genommen, doch diese junge Frau ist eine Kämpferin, bei allem, was recht ist!»
«Und was hat das mit meinem Sohn zu tun?» József fühlte sich, als stünde er am Rand eines Abgrunds, mit dem Finger des
Főnök
im Rücken.
«Hoffentlich nichts, mein Freund. Doch der Verlobte wurde kurze Zeit später aufgegriffen und in eine Zelle geworfen. Seine Verteidigung hört sich sehr eigenartig an. Er behauptet, von einem
hosszú élet
entführt worden zu sein, der den gleichen Namen trägt wie dein Sohn und der seine Gestalt angenommen hat, bevor er sich mit seiner Verlobten traf. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir noch nicht viel mehr als das. Wir hatten noch keine Gelegenheit, selbst mit dem jungen Mann zu reden.» Die azurfarbenen Flecken in den Augen des
Főnök
waren verblasst. «Der Palast hat uns gebeten, die Angelegenheit zu untersuchen. Das ist ohne Beispiel. Ungeachtet dessen, was sich nun ereignet hat oder nicht, die Tatsache, dass der Palast um unsere Kooperation ersucht, demonstriert das wachsende Misstrauen, dass uns von allen Seiten entgegenschlägt. Der König sieht, dass sich der Wind dreht, József, und versucht, sich zu distanzieren. Du musst deinen Sohn vor den
tanács
bringen und ihm Gelegenheit geben, seinen Namen reinzuwaschen.»
«Jawohl, Gebieter.» József zögerte. «Wenn ich fragen darf – was wird aus dem jungen Mann im Gefängnis?»
«Schuldig oder nicht, er wird hängen. Es steht zu viel auf dem Spiel für eine andere Lösung. Deine Aufgabe ist einfach, József. Kehre heim nach Gödöllő. Und komme mit deinem Sohn zu mir zurück.»
Lukács saß am Fenster und sah hinunter in den Hof, als sein Vater durch das Tor geritten kam. Er beobachtete, wie József vom Pferd stieg und die Zügel an einen Diener übergab.
Wenn du wüsstest, Vater, was ich dir gleich sagen werde, würdest du vielleicht nicht mehr ganz so stolz und aufrecht gehen.
Lukács ging die Stufen hinunter zur Bibliothek seines Vaters. Sein Magen verkrampfte sich aufgeregt. Es war keine Angst, die er empfand – dazu war er inzwischen zu selbstbewusst geworden. Doch selbst die einfachsten Interaktionen mit seinem Vater kosteten Mut, und angesichts der Ungeheuerlichkeit dessen, was er dem alten Mann sagen würde, war es ein überdeutliches Zeugnis der Entwicklung der letzten Wochen, dass er nur Aufregung verspürte und nicht mehr. Stärker als alles andere war sein Verlangen, die Augen seines Vaters zu sehen, wenn József dämmerte, dass es ihm nicht gelungen war, seinem Sohn den eigenen Willen aufzuzwingen.
Lukács’ Situation war ein
fait accompli
. Mit seiner Weigerung,
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