Der Bedrohung so nah (German Edition)
das Papier. „Sehr schön. Was malst du denn am liebsten?“
„Manchmal zeichne ich Bandito. Manchmal meine Mutter, aber ich bin nicht sehr gut im Gesichterzeichnen. Meistens denke ich mir einfach Sachen aus. Abendkleider kann ich ziemlich gut.“
„Dann bist du ja eine richtige kleine Modedesignerin“, sagte Erin.
Stolz blitzte in den Augen des Mädchens auf, und es strahlte. „Mein Dad sagt, Liz Clairborne kann sich warm einpacken.“
„Da hat er bestimmt recht.“ Erin gab ihr den Zeichenblock zurück. „Wenn du Lust hat, kannst du mir ja irgendwann mal ein paar deiner Zeichnungen zeigen.“
„Klar.“
Mrs Thornsberry nahm Nick das Geschenk aus den Händen und legte es Stephanie in den Schoß. Das Mädchen hob es auf und schüttelte es. „Ziemlich groß.“
Mit verschränkten Armen lehnte Nick an der Wand und lächelte seine Tochter an. Das erste Lächeln, das sie von ihm gesehen hatte, seitdem sie das Haus betreten hatte.
„Mach es auf, mein Liebling.“ Sein Blick traf Erin, und das Lächeln, das er seiner Tochter geschenkt hatte, umspielte noch immer seinen Mund. Es war eins der schönsten, das sie je gesehen hatte. Zu schade, dass er es so selten zeigte. Und es war nicht für sie bestimmt gewesen. Unangenehm berührt wandte sie den Blick ab. Gespannt sah Erin zu, wie das Mädchen das Geschenk auspackte. Plötzlich hielt es inne, und das Rascheln des Papiers verstummte. Es herrschte absolute Stille im Raum. Stephanie blinzelte, dann starrte sie den orangefarbenen Basketball an, als hätte sich jemand einen üblen Scherz mit ihr erlaubt.
„Es ist ein Basketball“, sagte sie mit monotoner Stimme.
Erins Magen krampfte sich zusammen. Sie betete, dass sich ihr sorgsam ausgesuchtes Geschenk nicht als großer Fehler herausstellte. Sie trat einen Schritt vor. „Ich habe den Korb draußen über dem Garagentor gesehen und mir gedacht, dass du vielleicht wieder anfangen möchtest zu spielen.“
Das Mädchen starrte Erin mit weiten blauen Augen an. Den Schmerz, der sich darin spiegelte, kannte Erin nur zu gut. Auch sie hatte sich in den vergangenen Monaten mehr als einmal von der harten Realität geschockt und verraten gefühlt. Ihr wurde schwer ums Herz, als sie sah, wie sich die endlos blauen Augen mit Tränen füllten.
„Ich kann kein Basketball mehr spielen“, sagte Stephanie mit dünner Stimme. „Meine Beine …“
„Oh Honey, sicher kannst du das“, sagte Erin sanft. „Wenn du möchtest, kannst du Unterricht nehmen. Auch Menschen mit einer Behinderung spielen Basketball und gewinnen Marathonläufe. Sie können alle möglichen Dinge tun, die Spaß machen.“
„Ich möchte, aber ich kann nicht.“ Stephanie sah ihren Vater an. „Warum hat sie mir den Ball gekauft? Ich kann doch nicht mehr spielen.“
Der Schmerz, der Erin überkam, war so stark, dass er ihr den Atem raubte. Sie konnte nichts anderes tun, als ihre Hand auf die Brust zu pressen und zu beten, dass das Mädchen es begreifen würde. Das Letzte, was sie wollte, war, einem Kind wehzutun, das schon viel zu oft verletzt worden war.
„Oh Honey“, sagte Mrs Thornsberry, „ich bin mir sicher, Erin hat sich nichts Böses dabei gedacht …“
„Ich kann nicht spielen“, schrie das Mädchen. „Ich will den Ball nicht.“
„Aber du kannst, Steph“, sagte Erin. „Ich kann es dir beibringen. Ich … “
„Es reicht.“ Nicks Stimme war hart wie Stahl.
Erin sah zu ihm hinüber. Wie versteinert stand er da und schaute sie an. Er hatte die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, und sein Blick war hart und kalt wie Gletschereis.
Eine Grabesstille herrschte im Raum. Fassungslos, als habe sie gerade den Kronleuchter von der Decke geschossen, starrte Hector sie an, während Mrs Thornsberry sich mit übertriebenem Eifer daranmachte, das Geschenkpapier vom Boden aufzusammeln.
Erin sah zu Stephanie. „Es tut mir leid“, sagte sie hilflos.
Das Mädchen drehte den Rollstuhl herum, bevor es mit einem herzzerreißenden Schluchzer im Flur verschwand.
Erin wurde übel. Nicht im Traum hatte sie gedacht, dass der Basketball Stephanie so in Aufruhr versetzen könnte. Wie hatte sie nur so unsensibel sein können? Wie hatte sie erwarten können, dass das Mädchen etwas verstand, was ihm bislang niemand erklärt hatte? Offenbar hatte das noch keiner für nötig gehalten.
Erin sah zu Nick hinüber. Die gleißende Wut, die ihr aus seinen Augen entgegenschlug, ließ sie zurückschrecken. „Ich wollte Steph nicht wehtun“, sagte sie.
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