Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
warteten, dass die Schüler zusammenkamen. Sie unterhielten sich mit gesenkter Stimme über jüngste Probleme in ihrer Gruppe, insbesondere über eine Frau, die sie beide kannten, der man einen Fingernagel ausgerissen hatte, weil sie mit Nagellack erwischt worden war. Einen Moment später strich Willa mit den Fingerspitzen über Chloes Wange. „Du siehst müde aus, meine Liebe. Geht es dir gut?"
„Nicht wirklich", antwortete Chloe und lächelte matt, dann erzählte sie ihr von den Dingen, die sich zurzeit in ihrem Leben abspielten.
Die Witwe sah sie konsterniert an. „Oh, Chloe. Du wirst uns sehr fehlen, wenn du nicht mehr bei uns bist."
„Ich sagte, der Amerikaner ist gekommen, um mich mitzunehmen. Ich habe nichts davon gesagt, dass ich ihn begleiten werde, das steht nicht fest."
„Wieso nicht? Es sei denn ... es kann doch nicht sein, dass du den Mann heiraten willst, der für dich ausgesucht wurde?"
„Ich brauche keinen Bräutigam", erwiderte sie mit Nachdruck.
„Also willst du dich Ahmad widersetzen." Willa sprach im Flüsterton.
„Er hat noch nicht von der Heirat gesprochen. Solange er nur darüber nachdenkt, ist es nutzlos, sich darüber Sorgen zu machen."
„Aber wenn er es dir sagt, wirst du keine andere Wahl haben. Warum willst du nicht gehen, solange du noch Zeit hast?"
„Wie kann ich das, wenn ich hier so dringend gebraucht werde?" Chloe deutete auf das Klassenzimmer.
„Hast du schon mal daran gedacht, dass es Kismet sein könnte? Dieser Mann, der gekommen ist, könnte deine Bestimmung in seinen Händen halten. Es könnte sein, dass du in deine wahre Heimat zurückkehren sollst, dass du dort dringender benötigt wirst."
„Was willst du damit sagen?"
„Denk nach, meine Liebe. Du kommst aus dieser modernen Welt, die so anders und so weit entfernt ist. Du kennst und verstehst diese Welt. Die Leute dort könnten zuhören, wenn du ihnen sagst, wie wir hier leiden müssen."
„Vielleicht hören sie aber auch nicht zu", erwiderte Chloe knapp. „Auch diese Welt wird von Männern geführt, die sich kein bisschen darum scheren, was Frauen erdulden müssen."
„Sie sind nicht so herzlos, was das Leid anderer angeht, glaube ich. Ich habe gehört, dass einige auch ein gutes Herz haben sollen. Glaubst du nicht, dass du an diesem Ort, den du Louisiana nennst und von dem du manchmal sprichst, Männer finden könntest, die zu unseren Verbündeten werden könnten?"
War das denkbar? Könnte jemand wie Wade Benedict Verständnis für ihre Probleme aufbringen und sie sich so sehr zu Herzen nehmen, dass er bereit sein würde, sie darin zu unterstützen, für eine Veränderung zu kämpfen? Das würde alles in ein völlig anderes Licht stellen.
Könnte sie wirklich nach Louisiana zurückkehren? Wie sehr sehnte sie sich danach, dieses Land wiederzusehen und herauszufinden, ob es wirklich das Paradies auf Erden war, wie sie es sich vorstellte. Wade gegenüber hatte sie so getan, als könne sie sich kaum an diese Zeit erinnern, doch das war mehr zu ihrem eigenen Schutz geschehen. Sie konnte ihn nicht wissen lassen, wie oft sie in ihren Träumen dorthin zurückgekehrt war, in das Camp am See, wo alles üppig und grün war, wo die Tage lang und golden waren, wo die Liebe ihres Vaters sie wie ein Segen umgeben hatte. Wenn der große Amerikaner davon wüsste, wenn er es nur ahnte, würde er es sicher gegen sie verwenden.
„Aber den wichtigsten Kampf kämpfen wir hier!" gab sie zurück und ballte die Hände zu Fäusten, als wollte sie die unerwünschten Bilder vertreiben, die einen ruhigen See und einen bartlosen Mann zeigten. „Hier müssen wir uns behaupten!"
„Gegen Ahmad? Er wird dich brechen. Hast du wirklich so wenig darüber gelernt, welche Macht das Oberhaupt der Familie besitzt?"
„Ich habe es gelernt." Besser gesagt: Sie hatte gelernt, wie man den Kopf senkte und tat, was einem aufgetragen wurde, obwohl man es innerlich von ganzem Herzen hasste.
„Ja. Es ist weitaus besser, sich zu beugen, anstatt im Stillen zu töten, während er schläft."
Chloe sah der anderen Frau in die Augen, als die diese Worte flüsterte. Es waren keine leeren Worte. Sie beide kannten eine verrückte alte Frau, die jetzt auf der Straße lebte, nachdem sie ihren brutalen Ehemann in ein Laken genäht und dann mit einem Besen zu Tode geprügelt hatte. Und sie wussten von einer anderen, jüngeren Frau, die ihrem Mann Arsen gegeben hatte, nachdem sie von ihm so geschlagen worden war, dass sie ihr ungeborenes Kind
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